Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
Der im Folgenden abgedruckte Briefverkehr zeigt deutlicher als die meisten anderen die teils tiefe Kluft zwischen Amot Nussquammer sen. und d’Aciel Arbogast I. Er soll hier daher exemplarisch für andere streitlustig geführte Debatten zwischen den beiden Nienetwil-Forschenden abgedruckt werden. Zudem erklärt er recht deutlich Arbogasts Weltbild und klärt, wenigstens ein Stück weit, die Zusammenhänge zwischen der Nienetwiler Kultur, den Skandaj und dem, was heute «Nienetwil» genannt wird, nämlich eine Weltanschauung.
Datum des Briefes unbekannt, wahrscheinlich, so lässt jedenfalls der Antwortbrief von d’Aciel Arbogast vermuten, in der zweiten Hälfte 1951
Verehrter Arbogast
Hören Sie endlich auf, so zu tun, als ob Sie etwas Besonderes seien. Natürlich sind Sie Nienetwiler. Aber wir sind alle Nienetwiler! Nienetwil ist unser aller gemeinsame Herkunft. Wenn nur Sie Nienetwiler wären, oder Ihre Gruppe, die sich geheimnisvoll hinter geschlossenen Türen trifft und eine eigene Sprache spricht, dann ist Nienetwil eben nicht «nienet», sondern dort, wo Sie und Ihre Gruppe sind. Nienetwil, das habe ich immer gesagt, ist überall und nicht nur bei Ihnen. Ich wäre Ihnen dementsprechend dankbar, wenn Sie meine Frau – ich weiss, dass Sie auch Ihre Tochter ist – aus dieser Geheimniskrämerei auslassen. Ich bitte, wenn nicht um Ihre eigene Seelenruhe, dann wenigstens unserem Familienfrieden zuliebe, Ihre esoterischen Impulse in Bande zu halten. Miri, wie Sie sehr wohl wissen, ist eine sensible Natur, die sich schnell für die verrücktesten Ideen begeistert. Jetzt redet sie nur noch von Cybernetik, eine neue Wissenschaft, die angeblich irgendwelchen elektronischen Maschinen das Denken beibringen will. Unsinn! Also kommen Sie bitte auf den Boden und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was uns allen gehört, auf das, was wir gemeinsam sind, und nicht auf das, was uns unterscheidet.
Ihr Nussquammer
Abschrift Krieger, 4.8.2020 (Das Originaldokument findet sich im Nachlass Nussquammer)
Antwortbrief des d’Aciel Arbogast I., 14. September 1951 (Dokumentsignatur: KMLU.N.USA.1.3.56). Das Original dieser Abschrift befindet sich im Archiv des Kantonsmuseums Luzern.
Amot, alter Freund
Dein Brief hat mich erreicht.
Ich hoffe, Amerika gefällt Dir noch. Miribal hat mir mitgeteilt, dass es Dir schlecht geht. Das tut mir leid. Ich hoffe, Du alter Knacker machst jetzt nicht den Drehdichum? Würde Dir so passen, mich ebenso alten Knacker hier alleine zurückzulassen! Das hast Du ja schon mal gemacht und bist zu den Amerikanern geflohen. Ha, das hat sich jetzt gerächt, und Du hast Miribal geradewegs zu den Kybernetikern geführt. Miribal hat mir geschrieben, dass sie am Macy-Kongress als Übersetzerin tätig war. Die richtige Gesellschaft für sie. Julien Bigelow hat sie ja bereits von dessen Besuch her in Paris bei uns gekannt. Und den alten Janos Neumann ebenfalls. Und sie hat Dir also wirklich den Norbert Wiener mit nach Hause gebracht? Wenn meine Knochen nicht brechen würden, würde ich mich schütteln vor Lachen. Der war sicher unerträglich für Dich, oder nicht? Mit Sicherheit bin nur ich noch arroganter und esoterischer als der! Mein Freund – ich mache mich lustig über Dich. Lass Miribal die Sachen machen, es ist gut und wichtig für sie.
Nun zu Deinem Brief.
Nach all den Jahren hast Du es noch immer nicht verstanden?
Nienetwiler sind nicht Nienetwiler. Nienetwil ist eine Weltanschauung, es ist unsere Art, zu denken und zu fühlen und zu handeln. Eine Weltanschauung, die wir mit Hunderttausenden anderen Menschen oder mehr teilen, ob sie nun Skandaj sind oder nicht. Menschen, die überall auf dieser Welt leben.
Das war immer Dein grosses Missverständnis, dass Du davon ausgegangen bist, dass wenn ich Nienetwiler sage, uns Skandaj meine. Aber dem ist nicht so, und Miribal hat das verstanden. Die Skandaj sind ein Volk. Ein Volksstamm oder eine Population des Homo sapiens, wenn Du so willst. Aber wir sind alle dieselben und teilen alle dasselbe Blut. Was wir nicht teilen, ist der Hang zu Macht, zur Anhäufung von Dingen, zur Ausbeutung, egal ob Mensch oder Nichtmensch. Und das ist der Grund, weshalb wir uns abgeschottet haben: weil wir unsere Art zu denken nicht opfern wollen.
Du greifst unsere Sprache an, doch hast Du sie nie studiert. Hättest Du es getan, dann wäre Dir klar geworden, dass uns die Sprache nicht teilt, sondern im Gegenteil verbindet. Denn Alaju ist eine Sprache, die mit absolut jeder Sprache auf dieser Welt verwandt ist. In jeder Sprache gibt es Alaju, und Alaju ist voll von Wörtern aus aller Welt. Apache, Keltisch, Griechisch, Soto, Chinesisch, Baskisch, Uigurisch, Finnisch, Türkisch, Deutsch, Ainu, Baskisch oder welche Sprache dir immer in den Sinn kommt. Jedes Wort, das wir aussprechen, erinnert uns an die Kultur und die Geschichten des Volkes, von dem es stammt. Es verbindet uns miteinander wie eine unsichtbare Schnur. Der Grund, weshalb wir sie bewahren, ist nicht der, dass wir uns absondern, sondern der, dass wir den Kulturen, die sie hervorgebracht haben, unseren Respekt erweisen und uns an ihre Geschichten erinnern wollen.
Und Alaju hat mit Nienetwil insofern zu tun, als dass es ein Spiegel unserer Kultur ist. Unserer und der Kulturen der ganzen Welt.
Und was meinst Du mit esoterischen Impulsen? Bloss weil ich nicht so akademisch daherrede, wie sie es Dir bei den Jesuiten und an der Universität beigebracht haben, heisst das nicht, dass ich esoterisch bin. Ich, und ich meine ich alleine, habe eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu sehen, und singe mein Lied auf diese Weise. Andere Skandaj haben eine andere Art, ihr Lied zu singen. Andere Menschen haben andere Arten, um auszudrücken, was sie sagen wollen.
Seit siebzig Jahren streiten wir uns deswegen und ich bin sicher, wir würden noch weiter streiten, wenn wir noch lange leben würden. Aber hat das unsere Forschung und Arbeit nicht bereichert? Dass wir die Welt so verschieden sehen und so viele verschiedene Arten haben, etwas zu sagen und doch dasselbe, wenn auch nicht das Gleiche, zu meinen?
Du hast in Deinem Brief geschrieben: «… richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was uns allen gehört, auf das, was wir gemeinsam haben, nicht auf das, was uns unterscheidet.»
Amot. Du bist es, der trennt, denn erstens: Uns gehört überhaupt nichts. Hat es nie und wird es nie. Sei es eine Sprache, eine Kultur, eine Weltanschauung, eine These oder Geld. Nichts davon gehört uns. Zweitens, was meinst Du mit «uns unterscheidet»? Wer von wem unterscheidet? Gehörst Du zu einem Wir? Oder ich? Ist es in Ordnung, wenn Du Dich als Deutschen, Spanier oder nun Amerikaner bezeichnest, ich mich aber nicht als Skandaj bezeichnen darf? Heisst das, dass Du glaubst, dass es ein Wir gibt? Die Skandaj definieren sich weder durch Rasse noch Staatsangehörigkeit, und schon gar nicht durch Hautfarbe. Wir definieren uns über einen klitzekleinen Teil unserer Kultur, nämlich die Art, die Dinge zu sehen. Tust Du das nicht? Siehst Du nicht Dinge nach Jesuitenart?
Du meinst also, ich sollte das in den Vordergrund stellen, was wir Menschen gemeinsam haben. Nun, was soll das sein, frage ich Dich? Welche Menschen meinst Du damit (da es ja offenbar ein Wir und ein Nichtwir gibt)? Wir studieren die Menschen, seit es sie gibt. Es gibt nichts, was allen gemeinsam wäre. Nur Aspekte. Manche haben dies, andere jenes gemeinsam. Ich kann nicht erkennen, was allen Menschen gemeinsam sein sollte, und wir sollten auch nicht so tun, als wäre das so. Vielmehr sollten wir das, was uns unterscheidet, als eine Möglichkeit, ein Potenzial sehen. Wenn überhaupt, dann ist das, was alle Menschen gemeinsam haben, das, dass sie alle verschieden sind.
Ich hoffe, Du hast nicht vergessen, dass Theodor Litt seine Idee der Reziprozität der Perspektive wie eine unreife Frucht zu uns ins Scheherazade getragen hat und sie erst dort zusammen mit uns weiterentwickelt hat.
Lieber Amot. Ich fürchte, wir werden uns niemals wiedersehen. Du bist alt und ich bin auch alt. Fast unser ganzes Leben waren wir verbunden. Ich danke Dir für die Jahre, die Du mit mir zusammen geforscht hast. Auch für die Streitereien und für Deinen jesuitischen Dickkopf! Und verflixt noch mal, hör endlich auf, mich zu siezen!
Grüsse Miribal von mir und gib auf Dich acht.
In Freundschaft
d’Aciel
- Inhaltsverzeichnis CRN 1-2020-1
- Einleitung der Herausgeber
- Vorwort
- Das Nienetwil-Projekt
- Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?
- Biografie von d’Aciel Arbogast I.
- Die Stellung des Handwerks und Werkzeugs in der Nienetwiler Kultur
- Biografie Amot Nussquammer sen.
- Einführung in die Nienetwiler Kultur von Amot Nussquammer sen.
- Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
- Ursprung der Nienetwiler Kultur
- Biografie Nomis Arbogast
- Fundbeschreibung und eine kleine Zeitreise in die Nienetwiler Kulturgeschichte
- The Alaju Settlement – Auszug aus der Autobiografie
- Ausblick CRN Nr. 2
- Impressum-Autoren CRN 1-2020-1