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Einführung
Der hier wiedergegebene Text stammt aus dem Nachlass von Amot Nussquammer jun. Er ist vermutlich ein Entwurf für einen längeren Artikel, den Nussquammer in den Jahren kurz vor seiner Entscheidung, die Universität zu verlassen und nach Südamerika auszuwandern, verfasst hat.
Gemäss Randnotizen und laut Aussagen in einigen Briefen, die den Text erwähnen, sollte er eine Art Testament oder Zusammenfassung seines wissenschaftlichen Denkens werden. Falls dies die Absicht war, wurde sie nicht erfüllt, da weder der Text fertig geschrieben noch in irgendeiner Form veröffentlicht wurde.
Somit reiht sich diese Schrift ein in eine lange Liste von Fragmenten und unveröffentlichten Manuskripten, die den Hauptteil von Nussquammers Nachlass ausmachen.
Was uns zur Veröffentlichung dieses Textes bewog, war nicht nur seine Bedeutung für Nussquammers Werk überhaupt, sondern die Tatsache, dass der Text ein Thema aufgreift, mit dem sich Nussquammer in Notizen, die er zu Beginn seines Studiums verfasste und welche wir in dieser Ausgabe der CRN ebenfalls veröffentlichen, befasst, nämlich dem Spiel. Da wir überzeugt sind, dass Nussquammers Werke für das Weiterleben der Nienetwiler Forschung bedeutend sind, fanden wir die Übersetzung, Redaktion und Veröffentlichung dieses Textes in den CRN gerechtfertigt.
Die Anlehnung an Friedrich Nietzsche im Titel ist natürlich beabsichtigt, ebenso die Wahl des Trauerspiels als zentrale Form des künstlerischen Ausdrucks nicht nur für die Griechen der Antike, sondern durch die Geschichte des Westens hindurch. Dennoch werden die Leserin und der Leser sofort merken, dass der Text mit Nietzsche eigentlich nichts zu tun hat. In seiner berühmten Schrift «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» (1872) verwies Nietzsche bekanntlich auf die tragische Situation der menschlichen Existenz, die darin liege, dass der Mensch aufgefordert werde, sein Leben zu bejahen und zu akzeptieren, obwohl er einem sinnlosen und willkürlichen Schicksal ausgeliefert ist. Darin sah Nietzsche den Streit der Urkräfte von Chaos und Ordnung, des Dionysischen und des Apollonischen.
Nussquammer hingegen nimmt diese Ideen in einem vollkommen anderen Zusammenhang auf: Für ihn ist die gegenwärtige historische Situation bestimmt durch die Kybernetik. Kybernetik bedeutet die vollständige Systematisierung und Kontrolle über alle Prozesse, Abläufe, Tätigkeiten und Lebensbereiche.
Wenn vorher die Vernunft das Leitprinzip der menschlichen Existenz war, ist dies nunmehr der Algorithmus.
Die Kybernetik vertritt somit das apollonische Prinzip der Ordnung. Der griechische Gott Apollon offenbart sich uns modernen Menschen in Form des Algorithmus. Nussquammer war überzeugt, dass im kybernetischen Zeitalter die Roboter alle industrialisierte Arbeit, also alle routinemässigen und geordneten Tätigkeiten, die nach den Gesetzen des Mittels zum Zweck ablaufen, übernehmen werden.
Nicht nur wird der Mensch dadurch von der Arbeit befreit, sondern damit zusammenhängend von der Notwendigkeit, sein Leben nach dem Diktat von Routinen und Vorgaben richten zu müssen. Dies würde bedeuten, dass nun das dionysische Prinzip, das Prinzip der Ekstase, des Spiels und des Chaos, das menschliche Leben regiert. Nach Nussquammer bedeutet dies, dass der Mensch nicht mehr als Arbeiter, sondern als Künstler sein Leben verbringen kann.
Jahrtausendelang mussten Menschen arbeiten, ausser sie waren reich oder adlig geboren. Die meisten waren «Arbeitstiere» und kannten im Leben nichts anderes als Routine und Zwang. Im kybernetischen Zeitalter fällt die Notwendigkeit von Arbeit nun plötzlich weg und der Mensch muss alle seine Tätigkeiten in kreative, nicht routinierte Formen von Handlung umwandeln.
In der heutigen Welt werden solche Tätigkeiten als Kunst betrachtet und bezeichnet. Die Auffassung von Kunst als pure Kreativität und als etwas Willkürliches und vollkommen Unvorhersehbares entspricht natürlich einem Kunstverständnis, das sich nur in der modernen Welt verbreitet hat. Man spricht in der modernen Welt von Kunst als Selbstzweck, von Kunst für Kunst (l’art pour l’art) und nicht von Kreativität zwecks irgendwelchen Nutzens oder Funktion in der Gesellschaft. Wenn die griechische Tragödie nach Nietzsche darin bestand, dass der Mensch vergebens versucht, ein geordnetes Leben zu führen, aber von einem willkürlichen Schicksal immer daran gehindert wurde, besteht das Tragische im kybernetischen Zeitalter darin, kreativ und künstlerisch sein zu müssen, ohne dass man über die Fähigkeiten dazu verfügt. «Der zukünftige Mensch ist verdammt, Künstler zu sein, was er aber nach Jahrtausenden als Arbeitstier nicht kann.» Darin besteht, nach Nussquammer, die Tragödie, die aus dem Geist der Kybernetik geboren wird.
Und dies zeigt auch Nussquammers persönliche Tragödie. Kurz nach dem Verfassen dieses Textes verliess er die Universität, kehrte der Wissenschaft den Rücken und widmete sich dem Tanz. Er könne das apollonische der Wissenschaft nicht mit dem dionysischen Prinzip der Kreativität und Ekstase des Tanzes versöhnen, begründete er diesen Entscheid.
Da die Maschinen voraussichtlich intelligenter als die Menschen werden, bleibe dem Menschen nur noch der Rückzug in das Chaos einer ekstatischen Kreativität. Trotzdem, wie dieser Text bezeugt, kämpfte Nussquammer gegen dieses Schicksal und versuchte in seinem Text doch, die Versöhnung der zwei entgegengesetzten Prinzipien zu beschreiben.
Nietzsche sah die Kunst als Versöhnung der Gegensätze. Dies mag für die Griechen der Fall gewesen sein, aber für den modernen Menschen lassen sich Algorithmus und Ekstase nicht vereinen. Also ging es Nussquammer offenbar um etwas anderes als die Versöhnung von Gegensätzen. Eigentlich müsste man sagen, er versuchte, hinter diese Gegensätze zu denken. Er suchte Auswege aus der Feindschaft von Chaos und Ordnung und fand Hinweise in der Nienetwiler Kultur.
Bekanntlich war die Haupttätigkeit des Menschen für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler das, was wir heute unter dem Begriff «sammeln» verstehen. Das Sammeln war nicht vergleichbar mit dem, was wir heute Arbeit nennen, und auch nicht mit dem, was wir heute als Freizeit und Hobbys bezeichnen.
Und schliesslich war das Sammeln auch nicht Kunst, denn für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler gab es Kunst, wie wir sie heute kennen, nicht. Die Nienetwilerinnen und Nienetwiler haben offensichtlich eine originäre Erfahrung des zugleich kreativen und funktionellen Umgangs mit der Welt gelebt.
Nussquammer war überzeugt, dass die Nienetwiler Lebensweise lange vor der Erfahrung einer Spaltung der Welt in entgegengesetzte Kräfte der Ordnung und des Chaos entstand. Er glaubte offensichtlich daran, dass der moderne Mensch aus der Tragik des Kreativseins, ohne es gelernt zu haben, herauskommen könnte, wenn er sich die Nienetwiler Kultur zum Vorbild nehmen würde. Und obwohl er in seinem eigenen Leben die originäre Existenzweise jenseits aller Tragik nicht selbst verwirklichen konnte, glaubte er, dies sei das Ziel für die Zukunft des Menschen.
Der hier wiedergegebene Text wurde redaktionell überarbeitet; Wiederholungen wurden gestrichen, unnötig lange Passagen wurden gekürzt und der Lesbarkeit wegen wurden Zwischentitel eingefügt. Die Herausgeber danken an dieser Stelle dem Museum Nienetwil für die finanzielle Unterstützung und die Erlaubnis, den Arbogast-Nachlass zu konsultieren.
Die Herausgeber
Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Kybernetik
Amot Nussquammer jun.
1. Die Ausgangslage
Man wird sich wundern, warum wohl die Welt als Ergebnis eines Streites zwischen Chaos und Ordnung seit den frühesten Zeiten und in den alten Mythen beschrieben wurde. Offenbar wurde die menschliche Existenz erlebt als Errungenschaft, als Sieg in einem Kampf gegen einen kosmischen Feind. Wann hat der Mensch, der seit Hunderten von Tausenden von Jahren selbstverständlich neben den Tieren in und mit der Natur lebte, plötzlich das Gefühl bekommen, die Natur sei gegen ihn und trachtete nach seinem Leben? Wie immer dieses Gefühl entstanden ist: Die Griechen der Antike erhoben es zur Kunstform, nämlich in Form der Tragödie. Die griechische Tragödie zeigte den Menschen einem willkürlichen und sinnlosen Schicksal ausgeliefert. Angesichts dieses Schicksals könne der Mensch seine Würde nur in einer Art Akzeptanz und Versöhnung erleben. Dieses Erlebnis verdankten die Griechen der Antike laut Nietzsche der Musik, welche zugleich Ekstase und Form sei. Nietzsche sprach vom apollonischen Prinzip der Ordnung und dem dionysischen Prinzip der Ekstase, die sich in der Musik vereinigten. Nur so, laut Nietzsche, könne der Mensch seinem Schicksal Ausdruck verleihen und durch die theatralische Darbietung auf der Bühne sich selbst erkennen und akzeptieren lernen.
Inzwischen hat sich die Welt verändert. Unser Zeitalter könnte das kybernetische Zeitalter genannt werden. Unter Kybernetik versteht man die Automatisierung aller problemlösenden Prozesse, zum Beispiel die Produktion von Gütern oder das Koordinieren von Logistik oder das Instandhalten von Bauten und Strassen oder schliesslich auch die Agrikultur. Es gibt voraussichtlich nichts, das ein Algorithmus nicht kann, vorausgesetzt natürlich, dass die notwendige Hardware und Software sowie Daten vorhanden sind. Für die Lösung dieser Probleme war vor dem kybernetischen Zeitalter die menschliche Vernunft zuständig. Spätestens seit der Neuzeit lässt sich der Mensch in seinen Handlungen von Vernunft leiten statt von Gott und König. Dies ist nicht nur so in der Technik und Industrie, sondern auch – angeblich – in der Politik, der Wirtschaft und im privaten Leben. Jeder Bürger, jede Bürgerin ist nicht nur verpflichtet, «vernünftig» zu sein, sondern es wird wider jeglichen Beweis behauptet und überall geglaubt, dass die Natur ihn bzw. sie so ausgestattet habe. Wenn nun der Algorithmus an die Stelle der Vernunft tritt, was bleibt dem Menschen übrig?
Offensichtlich bleibt ihm nur noch die Kunst. Kunst ist der Bereich des menschlichen Handelns, der mit Kreativität, dem Nichtgeordneten, dem Dysfunktionalen zu tun hat. Wenn Marcel Duchamp einen gewöhnlichen Gebrauchsgegenstand nimmt – ein Urinal zum Beispiel –, dieses auf den Kopf stellt, mit seinem Namen unterzeichnet und es in einer Kunstgalerie ausstellt, dann hat er nichts anderes getan, als etwas dysfunktional zu machen und somit zur Kunst zu erklären. Und er hat auch etwas getan, mit dem niemand gerechnet hatte, etwas völlig Unerwartetes, Überraschendes, Unvorhersehbares. Dies ist die Freiheit der Kunst: das Unerwartete zu tun und damit Unberechenbarkeit in die Welt der algorithmischen Berechnung einzuführen.
Wie sollten wir uns unsere Zukunft vorstellen? Auf der einen Seite gibt es die Maschinen, die laufend die Welt mit funktionalen Gegenständen füllen, und auf der anderen Seite die Menschen, welche diese Gegenstände laufend dysfunktionalisieren und die Welt mit Kunst füllen. Natürlich besteht die Gegenwartskunst nicht nur aus sogenannten Readymades. Es gibt unzählige Weisen, zu überraschen. Aber im Allgemeinen sieht es so aus, als ob der Streit von Chaos und Ordnung wieder ausgebrochen sei, und zwar ohne irgendwelche Chancen der Versöhnung. Der moderne Streit zwischen dem Algorithmus und der Kunst lässt sich aber im Gegensatz zu den Griechen der Antike nicht auf die Bühne bringen und durch Musik oder sonst irgendwelche Mittel versöhnen. Im Gegensatz zu dem, was Nietzsche glaubte, scheint es, dass die Lösungen, welche die Griechen der Antike fanden, uns heute und in der Zukunft nichts nutzen.
Nietzsche kam zum Schluss, dass nur der Übermensch fähig wäre, eine würdige Existenz in der modernen Welt zu führen.
Wir dagegen sind der Meinung, dass eine Antwort auf die Fragen der Zukunft nicht von einem Übermenschen, der erst noch kommen wird, zu finden ist, sondern in der Art und Weise, wie Menschen lebten, bevor die Welt sich im Streit der entgegengesetzten Kräfte spaltete.
Ich spreche von Nienetwil, eine sehr alte, ja vielleicht sogar die erste Kultur der Menschheit überhaupt. Die Archäologie und vor allem die Entdeckungen meines Vaters Amot Nussquammer sen. und d’Aciel Arbogast offenbaren eine sonderbare Kultur der frühesten Menschen, eine Kultur, die derart anders war als wie wir heutigen Menschen leben, dass wir kaum Möglichkeiten haben, diese Kultur zu verstehen. Auch das Brauchtum der Skandaj, das anscheinend viel von der ursprünglichen Lebensweise der Nienetwilerinnen und Nienetwiler bewahrt, wird kaum von den Menschen der modernen Kulturen verstanden oder gar wahrgenommen. Trotzdem dürfen wir annehmen, dass Möglichkeiten der menschlichen Existenz in unserer Vergangenheit und auch unter uns verborgen liegen, die uns heute helfen könnten, einen Weg in die Zukunft zu bahnen.
Nienetwil und das Sammeln
Obwohl es umstritten ist, deuten die archäologischen Befunde zusammen mit Hinweisen von vergangenen und sogar gegenwärtigen Völkern wie den von Arbogast erforschten Skandaj, welche unter dem Titel «Nienetwil» geordnet sind, auf eine Lebensart der frühen Menschen, die nicht als Konflikt oder Antagonismus der Natur gegenüber bezeichnet werden kann.
Die Nienetwilerinnen und Nienetwiler betrachteten sich nicht als verschieden von der Natur. Folglich kannten sie den Begriff von «Natur» nicht. Sie betrachteten alle Dinge, Tiere und Pflanzen als Partner oder zumindest potenzielle Partner in der Tätigkeit des Sammelns.
Das, was der Mensch in der Welt tut, war als «Sammeln» bezeichnet. Auch wenn die Menschen besondere Wesen waren, waren es nicht nur die Menschen, die sammelten, sondern alle Wesen waren darauf gerichtet, Verbindungen mit allen anderen Wesen einzugehen.
Für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler war es nicht nur der Mensch, der die Fähigkeit hatte, in der Welt zu agieren und somit als einziger Akteur in der Welt einer widerspenstigen Natur entgegenstand. Nach ihrem Verständnis hatten und haben vielmehr alle Wesen die Fähigkeit, sich in mannigfacher Art und Weise mit anderen Wesen zu verbinden. Solche Verbindungen, wenn sie sich stabilisierten und dazu beitrugen, etwas Neues hervorzubringen, wurden «Sammlungen» genannt. Nicht alles war eine Sammlung, sondern es brauchte so etwas wie eine «Gelegenheit», damit gewisse Dinge mit gewissen anderen Dingen oder mit Menschen oder Tieren besondere Beziehungen eingingen.
Es ist natürlich unbestreitbar, dass bei der Wahrnehmung dieser Gelegenheiten die Menschen eine wichtige Rolle spielten. Menschen, die gut sammeln konnten, wurden «Fürsprecher» genannt, denn sie «sprachen» für die Dinge. Sie sprachen in der «Versammlung» für die Dinge, sei es ein Stück Holz oder ein Stein oder ein Tier oder sonst etwas, das nunmehr mit den Menschen zusammen eine «Sammlung» bilden sollte. Schon die Betonung des «Sprechens» ist aber irreführend. Denn die Versammlung war nicht ein «Parlament», das heisst eine Gelegenheit und ein Ort, wo Menschen hauptsächlich miteinander redeten.
Eigentlich war die Sprache für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler im Gegensatz zu den Griechen nicht das Auszeichnende am Menschen. Sprache, die ja erst spät in der Menschheitsentwicklung entstand, war zweitrangig. Es ging vielmehr um eine Art des Handelns, in dem Menschen und Dinge und Tiere alle zusammen in einem Spiel aufgingen, in einer besonderen Interaktion, woran alle gleichberechtigt beteiligt waren und dessen Ergebnis nicht vorhergesagt werden konnte.
In der Nienetwiler Gesellschaft ist es dieses Spielen – oder das spielende Sammeln –, das den Menschen auszeichnete, weil es immer um das Hervorbringen oder In-Erscheinung-treten-Lassen von etwas, das nicht schon da war, ging. Was in der Versammlung stattfand, waren «Verhandlungen» – das Wort Spiel kannten die Nienetwiler nicht. Die Verhandlungen waren viel mehr ein Zeigen, ein Darstellen als ein Sagen, das nur in der Sprache stattfand. Es geschah aus dem Spiel der Verhandlungen heraus, dass verschiedene Wesen sich in eine Sammlung einfügen konnten.
Dies nannten die Nienetwiler «Handwerk», was für sie so etwas wie «die sammelnde Handlung» oder auch «die Hand, die sammelt» bezeichnete und nicht das, was heute unter dem Begriff des Handwerks als Manufaktur verstanden wird. Die Hauptsache lag darin, dass es nicht um das Reden über etwas ging, sondern um das Handeln der Hand im spielenden Zeigen von dem, was im Spiel der Dinge miteinander zum Vorschein kommen könnte.
Alle sogenannten Artefakte – seien es Werkzeuge oder Einrichtungen zum Wohnen oder Kleider oder Essbares – waren solche Sammlungen, wodurch die Dinge selbst durch das, was sie im Spiel des Sammelns von sich zeigten, erst zu dem wurden, was sie waren.
Genau dies war es, was die Fürsprecher durch das Zeigen zum Ausdruck bringen mussten. Sie mussten zeigen und somit allen verständlich machen, was ein Ding tun könnte, um mit den Menschen zusammen eine Sammlung zu bilden.
Damit war das Leben des Menschen nicht durch Vernunft oder gar durch den Willen oder Emotionen geleitet, sondern durch das, was die Nienetwilerinnen und Nienetwiler als «praktische Interaktion» oder als Ko-Operation des Verhandelns verstanden.
Diese ursprüngliche Form der Kommunikation, das heisst das Hin und Her zwischen Menschen und Dingen in spielerischer Interaktion, wurde übersehen und verkürzt, wenn die Griechen der Antike das den Menschen Auszeichnende ausschliesslich in der Sprache, dem logos, sahen.
Nach Aristoteles ist der Mensch das Tier, das die Sprache hat. Die Sprache und damit die Vernunft wurde zum Wesentlichen des Menschen und das spielende Sammeln wurde vergessen oder zu etwas Unwesentlichem degradiert.
Und doch liegt noch ein Echo der ursprünglichen Bedeutung des Sammelns im Wort logos, griechisch legein, das mit dem deutschen Wort «lesen» verwandt ist und worin die Bedeutungen des Auflesens und Auslesens noch auf das ursprüngliche Sammeln hindeuten.
Im weiteren Verlauf der Geschichte der westlichen Kultur wurde diese ursprüngliche Bedeutung des Logos von der Idee der Vernunft, lateinisch ratio, verdeckt und entsprechend das Spielen zur minderwertigen Tätigkeit gegenüber den «ernsten» Tätigkeiten der Politik, der Wissenschaft und des Handels.
Da alle Wesen gleichberechtigt an der Versammlung teilnehmen konnten, verstanden die Nienetwilerinnen und Nienetwiler die Welt als grosses, alles umfassendes Spiel des Sammelns. Für sie war (und ist) die Welt nicht die Wirkung einer Ursache, wie dies später in den meisten Religionen dargestellt ist.
Die Welt ist nicht aus dem schöpferischen Handeln eines Gottes entstanden, der gleichsam als erste und grösste Ursache funktioniert. Ebenso wenig verstanden die Nienetwiler das Handeln des Menschen als Ursache von Artefakten aller Art. Hätte man sie gefragt, woher die Dinge kommen, dann könnte man sich vorstellen, dass die Nienetwilerinnen und Nienetwiler nicht auf die Idee kamen, eine Ursache zu suchen oder das Handeln von irgendetwas Besonderem zu betonen. Ganz im Gegensatz zur modernen Wissenschaft, wo alles eine Ursache hat und dem Wirken einer Ursache sein Entstehen verdankt, entstanden alle Dinge und die Menschen auch aus der Interaktion aller Wesen in einer Art ungezwungenem Spiel.
Daher lag es den Nienetwilern fern, sich Ordnung als Wirkung einer Ursache bzw. als Errungenschaft eines Kampfes gegen Chaos vorzustellen. Die Nienetwilerinnen und Nienetwiler machten keinen Unterschied zwischen Gott und Welt, Chaos und Ordnung, Gut und Böse. Diese und ähnliche binären Unterscheidungen, die benutzt werden, um die Welt im Laufe der Geschichte zu erklären, waren den Nienetwilern fremd.
Die Folge war, dass nichts ausgeschlossen wurde, denn alles, was sich in irgendeiner Art und Weise sich zeigte, hatte offensichtlich «etwas zu sagen» oder «eine Rolle zu spielen». Alles könnte auf seine je eigene Art und Weise «mitspielen». Dass alle Wesen an Sammlungen teilnehmen «wollten», war für die Nienetwiler selbstverständlich, denn erst im und durch das Spiel der Verbindungen im Sammeln konnten sie zu dem werden, was sie waren.
Es wäre vollkommen unvorstellbar, dass irgendein Wesen völlig unabhängig, allein, ohne Verbindungen zu anderen Wesen existieren könnte. Denn für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler bedeutete Existenz das Gleiche wie Verbundenheit oder Aufeinander-angewiesen-Sein. Folglich hatten sie nicht die Idee, dass Menschen «Individuen» im modernen Sinn des Wortes sein könnten.
Die Tragödie des modernen Menschen liegt darin, dass er im Grunde seines Wesens ein isoliertes Individuum ist. Jede Sinngebung in seinem Leben muss aus ihm selbst kommen. Oder wie Nietzsche es zum Ausdruck brachte: Gott ist tot. Und der Übermensch, den Nietzsche preiste, war derjenige, der sein Schicksal selber bestimmte.
Wenn im kybernetischen Zeitalter die Sinnfrage nicht dadurch automatisch beantwortet wird, dass der Mensch arbeiten muss, dann fällt der Mensch in die Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit ergibt sich daraus, dass das Individuum keine Vorgaben, Routinen, Normen und Verpflichtungen mehr hat, die es erfüllen muss, sondern auf sich selbst gestellt ist bei der Gestaltung seines Lebens.
Dass dieses Leben nichts mit Spielen zu tun haben kann, ist selbstverständlich, da das Spielen nie allein durchgeführt werden kann und grundsätzlich vom Aufeinander-angewiesen-Sein jedes Wesens her stammt. Nietzsche sprach in diesem Zusammenhang von Nihilismus und vom Übermenschen. Die Tragödie, die aus dem Geist der Kybernetik erwächst, ist der vergebliche Versuch des normalen Menschen, ein Übermensch zu werden, und dass er für sich allein sein eigenes Spiel erfindet und somit in nichts Höherem aufgehen kann. Der Übermensch ist der Mensch, der frei von jeder Verbindung lebt und auf nichts angewiesen ist ausser sich selbst.
Dies ist ein Streben nach einer Freiheit, die den Nienetwilern vollkommen fremd wäre. Denn frei kann nur derjenige sein, der viele Optionen und Möglichkeiten hat, die aus den fast unendlichen Verbindungen kommen, welche alle Wesen miteinander eingehen können. Nach Auffassung der Nienetwiler sind alle Wesen aufeinander angewiesen.
Die verschiedenen Formen dieses Aufeinander-angewiesen-Seins sind aber unendlich, unbekannt und offen. Sie werden jeweils in den Verhandlungen ausgehandelt. Daraus entsteht eine Sammlung, das heisst ein relativ stabiles Netzwerk von Verbindungen – zum Beispiel wird ein Stück Holz zum Teil eines Zaunes oder zur Stütze eines Daches oder zu einem Werkzeug, um die Erde zu bearbeiten. Es kann alle diese Dinge und vieles mehr werden, je zu seiner Zeit und in seiner eigenen Art und Weise. Ein Stück Holz kann unzählige Verbindungen zusammen mit anderen Dingen wie Stein oder Metall oder was immer eingehen.
Dabei ergeben sich aus den Verhandlungen Erwartungen, Normen und Verpflichtungen. In einer Sammlung hat jede und jeder eine Rolle zu spielen. Kein Spiel ist pure Beliebigkeit und Willkür. Die Welt besteht somit nicht aus Entscheidungen irgendwelcher angeblich souveräner Wesen – ob Gott, König oder freies Individuum – und auch nicht aus den Wirkungen irgendwelcher Ursachen, sondern aus endlosen und immer neu aushandelbaren Netzen von Verbindungen.
Von Systemen und Netzwerken
Die Kybernetik ordnet die Welt in Systeme. Für die Kybernetik gibt es nur Systeme. Ein System ist eine besondere Art von Sammlung, die darauf ausgerichtet ist, stabil und berechenbar zu sein. Die Kybernetik berechnet alle Interaktionen der verschiedenen Elemente eines Systems und gemäss diesen Berechnungen steuert sie das System auf ein bestimmtes Ziel hin. Der Begriff Kybernetik stammt vom griechischen Wort kybernetes, (Steuermann). Die berechnende Vernunft in Form des Algorithmus steuert das System wie ein Schiff auf dem Meer, damit vorgegebene Ziele erreicht werden. Nur so können komplexe Prozesse zuverlässig ausgeführt und Ergebnisse garantiert werden. Das Entscheidende bei Systemen ist das Ziel, der Output des Systems. Alles im System wird gesteuert, damit ein bestimmtes Ziel erreicht wird.
Woher kommt es, dass das Ziel alles bestimmt? Es kommt von daher, dass die Griechen der Antike die unzähligen verschiedenen Arten von Aufeinander-angewiesen-Sein, welche Menschen, Tiere, Pflanzen und alle anderen Dinge miteinander verbinden, auf nur vier sogenannte «Ursachen» reduzierten. Es gab zuerst das Material, der Stoff, woraus etwas besteht. Dies ist die Stoff-Ursache. Zweitens gab es jemanden, der aus dem Stoff etwas machte. Dies ist nach Aristoteles die Wirk-Ursache.
Drittens gab es die Idee des Dinges, das, was das Ding in seinem Aussehen entsprechen sollte. Dies ist die Form-Ursache. Und schliesslich gab es den Zweck, das Ziel, welches das Ding erfüllen soll.
Dies ist die End-Ursache.
Der weitere Verlauf der Geschichte der westlichen Kultur reduzierte diese vier Formen des Aufeinander-angewiesen-Seins noch mehr. Bekanntlich gab es für die Naturwissenschaften der Neuzeit nur noch die Wirk-Ursache.
Die Welt war durch und durch «mechanistisch», wie ein grosses Uhrwerk oder wie Billardkugeln, die aufeinanderstossen und somit die Welt bewegen. Dies wurde «deterministische Kausalität» genannt und dominierte das sogenannte «wissenschaftliche» Weltbild, bis die Kybernetik kam.
Mit der Kybernetik gelten nicht mehr die Wirk-Ursachen als die wichtigste Art und Weise, wie Dinge gesammelt werden, sondern es gilt nur noch die End-Ursache, das heisst der Output des Systems. Egal welche Prozesse in welchen Materialien gesteuert werden – es geht dem Algorithmus nur darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Die Kybernetik kennt nur eine Art und Weise des Aufeinander-angewiesen-Seins, nämlich die «Funktionalität». Funktionalität besagt, dass alles eine Funktion haben muss, um überhaupt zu existieren. Wenn alles eine Funktion hat, dann deswegen, weil alles auf das Erreichen eines bestimmten Ziels ausgerichtet ist. Das Ziel ist gegeben und Menschen und Dinge werden so zusammengebracht und miteinander verbunden, damit das Ziel erreicht wird.
Die Materie spielt keine Rolle, denn solange ein Ding eine Funktion erfüllen kann, ist es unwichtig, aus welchem Stoff es besteht. Ebenso unwichtig sind die Wirk-Ursachen, denn das System ist grösser als die Summe der Teile und agiert als Ganzes. Entweder funktioniert das System oder nicht. Nur das System als Ganzes tut etwas oder «operiert». Systeme, die nicht funktionieren, verschwinden einfach. Es ist auch egal, wie das System aussieht. Was die Griechen die Idee nannten, die Form-Ursache eines Dinges, spielt keine Rolle, solange das System die vorgegebenen Ziele erreicht. Wenn ein System zum Beispiel das Ziel hat, Wasser zu pumpen, kann es so aussehen, wie es will, aus jedem nur erdenklichen Stoff bestehen und von beliebiger Energie getrieben werden, solange Wasser gepumpt wird. Nur die End-Ursache, das Ziel verbindet alle Elemente des Systems und bleibt als allein gültige Form des Aufeinander-angewiesen-Seins. Es ist das Ziel, dass alles im System so zusammengebracht wird, dass es dadurch erreicht wird.
Wenn nun alle Tätigkeiten von der Kybernetik so organisiert sind, dass nur das Erreichen von vorgegebenen Zielen alle Beziehungen zwischen Menschen und Dingen bestimmt, bleibt kein Platz für Zufall, für das Unberechenbare oder für Kreativität mehr. Wenn in der Zukunft die Roboter die Arbeit ausführen und Menschen nicht mehr in Arbeitsprozesse, das heisst in Systeme eingebunden werden, finden sie sich in eine Welt entlassen, die vom Zufall bestimmt wird – also dem, was die Griechen der Antike als ein willkürliches und demnach tragisches Schicksal betrachteten.
Die Nienetwilerinnen und Nienetwiler dagegen hatten weder ein Wort für Zufall noch für Schicksal. Was immer passierte, mag unvorhersehbar gewesen sein, aber deswegen nicht willkürlich oder zufällig, und gar nicht als Angriff des Chaos auf die Ordnung zu deuten.
Daraus folgt aber nicht, dass für die Nienetwiler im neuzeitlichen Sinne des Wortes alles «determiniert» wäre.
Wie kann man sagen, dass die Ergebnisse eines Spiels «determiniert» sind? Für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler gab es keinen Gegensatz zwischen Freiheit und Determinismus, denn die unzähligen Formen des Aufeinander-angewiesen-Seins der Dinge und die Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse des Sammelns liessen keinen Platz für einen Freiheitsbegriff, der nur im Gegensatz zu Determinismus Sinn ergab. Die Frage für die Nienetwiler war immer: Was für mögliche Verbindungen zeigen sich durch das Spiel des Sammelns? Welche Sammlungen könnten sich ergeben? In welchen Formen sind die verschiedenen Dinge und Ereignisse aufeinander angewiesen? Wie könnten diese Verbindungen im Spiel des Sammelns in Erscheinung treten?
Wenn man nun die uralte Nienetwiler Lebensweise ernst nimmt, führt dies zur Frage: Was hat Nienetwil für uns heute zu bedeuten? Die Antwort liegt auf der Hand. Nur dann, wenn die Menschen sich auf ihre ursprüngliche Beziehung zur Welt zurückbesinnen und sich auf die uralte Nienetwiler Existenzweise einlassen, könnte die Tragödie des modernen Menschen überwunden werden. Dies bedeutet aber, dass wo immer Systeme sind, daraus Netzwerke entstehen sollten. Wo immer die Kybernetik das Erreichen vorgegebener Ziele zum Mass aller Dinge machen will, sollen die geschlossenen Systeme geöffnet und ganz andere Arten des Aufeinander-angewiesen-Seins als die blosse Funktionalität zugelassen werden.
Dies bedeutet, dass die Systeme wieder zu Sammlungen werden. Wir könnten das Nienetwiler Wort «Sammlung» durch das moderne Wort «Netzwerk» übersetzen, denn im Gegensatz zu Systemen sind Netzwerke offen in Bezug darauf, wer oder was daran teilnimmt und wie und wozu. Netzwerke sind flexibel in Bezug darauf, welche Ziele sie verfolgen oder Zwecke sie erfüllen. Sie können viele verschiedene Zwecke gleichzeitig erfüllen. Dies ist so, weil sie verschiedene Formen des Aufeinander-angewiesen-Seins aller Beteiligten zulassen und diese nicht auf nur wenige oder gar auf nur eine sogenannte «Ursache» reduzieren.
Wenn Systeme zu Netzwerken werden, verliert die Kybernetik ihre Macht bzw. sie wird aufgenommen in eine Art Spiel, in das Prinzip des Sammelns. Das Sammeln, das für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler alle Formen des Lebens ordnete – und zwar nicht, weil es gegen eine kosmische Kraft des Chaos kämpft! –, kommt wieder zum Tragen und bestimmt die Zukunft, wie es einmal die Vergangenheit bestimmt hat. Dies soll unsere Hoffnung sein!