Simon Meyer
Der Artikel beschreibt das Fundobjekt KMLU.N.CH.5.68.2 und führt uns in einer kleinen Zeitreise an den Anfang der Benennung von Werkzeugen und damit der Möglichkeit, Wissen zu kumulieren.
Kurz bevor wir im Herbst 2018 die Grabungsetappe Nienetwil/2 abschlossen, kam in Schicht 195 ein Stein zum Vorschein, der unsere Grabungsequipe in Feierlaune versetzte. Es handelte sich um einen ca. 11 × 8 × 5 cm grossen, aus hartem, grobem graubraunen und über und über mit Gebrauchsspuren versetzten Sandstein. Die Schicht, in der er gefunden wurde, hatten wir schon zuvor auf ca. 1,2 Mio. Jahre vor unserer Zeit datiert.
Der grobkörnige Stein hat, obwohl Sandstein, eine hohe Härte und ist von denen, die ihn benutzten, offenbar für Schleifarbeiten verwendet worden. Es sind zudem eindeutige Schlagspuren zu erkennen, deren natürliches Entstehen ausgeschlossen werden kann.
Wir hatten wirklich Grund zum Feiern, denn was uns da aus der Kiste mit der Aufschrift KMLU.N.CH.5.68.2 entgegenblinzelte, war um so viel mehr als nur ein Stein.
KMLU.N.CH.5.68.2: Zu dieser Fundbeschreibung würde nun natürlich noch die Typologisierung angehängt, Erklärungen zur Altersbestimmung der Gebrauchsspuren und zum Umgebungsmaterial sowie Analysen der im Umgebungsmaterial gefundenen Pflanzen- und Knochenreste, und nicht zuletzt natürlich das geologische Gutachten, das ebenfalls angefertigt worden ist. Aber dies ist keine archäologische Fachzeitschrift, und wen es interessiert, der darf gerne beim Kantonsmuseum Luzern vorstellig werden.
Wir werden Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, lieber auf eine kleine Reise durch die Zeit und in eine Kultur entführen, damit Sie beim Betrachten dieses Geröll-Objekts in ähnliche iVerzückung geraten können wie wir.
Stellen Sie sich vor, Sie reisen in der Zeit zurück. Weit zurück. Unglaublich weit zurück. Wir wissen nicht genau, wie weit es ist, aber KMLU.N.CH.5.68.2, bzw. die Gebrauchsspuren darauf, können auf ein Alter von etwa 1,2 Mio. Jahren datiert werden. Es gab also noch keine Medien, die verbreiten konnten, was nun geschah, aber das macht nichts, denn es wurde in all der Zeit nie vergessen.
Wir sehen vor uns ein fruchtbares Tal und einen Hominiden, einen Homo erectus wohl. Nennen wir ihn Tok. Tok also macht sich an einem Bachbett zu schaffen und fischt einen Stein aus dem Wasser. Er packt den Stein mit der Hand, öffnet die andere Hand, in der er einige Nüsse birgt und nun eine davon auf einen flachen Stein fallen lässt. Er schaut die Nuss an und den Stein, so wie er das schon Dutzende Male gemacht hat, und schlägt mit dem Stein auf die Nuss, die nun zertrümmert auf dem flachen Fels liegt. Tok schaut seinen Stein bewundernd an, offensichtlich gefällt er ihm. Er wirft die anderen Nüsse ebenfalls auf den Felsen und zerschlägt sie alle. Genüsslich pult er das Essbare raus und verzehrt es. Während unser Tok so dasitzt und kaut, packt er einen zweiten Stein. Er ist ebenfalls rund und liegt gut in der Hand. Offensichtlich um herauszufinden, ob sein schöner Stein diesen neuen nun auch wie die Nüsse zerschmettern kann, schlägt er mit Wucht darauf ein. «Tscheck» macht der Stein und Funken sprühen. Tok hebt den Kopf. «ck» macht er, und sieht den Stein an. «ck».
Er schlägt mit dem Stein erneut auf den anderen ein und wieder macht es «tscheck». Pure Freude ergreift Tok und herumhüpfend schlägt er nun die beiden Steine gegeneinander und ruft «ck», «ck». Er hatte begriffen.
Einen Monat später sehen wir einen anderen Hominiden, der einem Jungen einen runden Stein hinwirft. «ck», sagt er, und der Junge packt den Stein und öffnet ein paar Nüsse damit.
Was wir gesehen haben, ist der Urbeginn der intentionellen, nach überliefertem Wissen weitergegebenen und benannten Werkzeugnutzung. Wo bis dahin einfach ein Ast oder Stein als Hilfe zum Beispiel für das Nüsseknacken aufgehoben und nach der Arbeit wieder fallen gelassen und vergessen wurde, haben das Werkzeug und die damit verrichtete Arbeit nun einen Namen. Damit ist es möglich geworden, Wissen weiterzutragen und zu kumulieren. Der Werkzeug-Stein ist nun nicht mehr bloss ein Stein, er ist «ck», und ebenso wird das Schlagen von Stein auf etwas anderes mit «ck» bezeichnet.
So hat – und auch das wird Tok nicht vergessen – der Mensch nicht nur das Objekt beeinflusst, sondern das Objekt auch den Menschen. In vielen Kulturen, wie etwa in der Nienetwiler Kultur, blieb diese Erkenntnis erhalten und prägt teils bis heute das Verhältnis vom Menschen zu dem, was ihn umgibt, als das Begreifen sich gegenseitig beeinflussender Individuen.
Mehr als eine Million Jahre später ist aus dem «ck» ein «tek» geworden. Es bezeichnet nun nicht nur Arbeiten, die mit dem «chec», also einem runden Stein, gemacht werden, sondern jede Form der Bearbeitung. Und viele Tausend Jahre später – über Athen prangte bereits die Akropolis – floss das Wort in die griechische Sprache ein und wurde dort zu «techne» und bedeutete Handwerk/Kunst.
Und nun verstehen Sie vielleicht, weshalb KMLU.N.CH.5.68.2 so viel Freude bereitet – weil er ein Zeuge jener Zeit ist, in der Tok einem Werkzeug einen Namen gab und damit den Weg zur Nienetwiler Kultur, und im weitesten Sinne zur Menschwerdung – ebnete.
- Inhaltsverzeichnis CRN 1-2020-1
- Einleitung der Herausgeber
- Vorwort
- Das Nienetwil-Projekt
- Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?
- Biografie von d’Aciel Arbogast I.
- Die Stellung des Handwerks und Werkzeugs in der Nienetwiler Kultur
- Biografie Amot Nussquammer sen.
- Einführung in die Nienetwiler Kultur von Amot Nussquammer sen.
- Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
- Ursprung der Nienetwiler Kultur
- Biografie Nomis Arbogast
- Fundbeschreibung und eine kleine Zeitreise in die Nienetwiler Kulturgeschichte
- The Alaju Settlement – Auszug aus der Autobiografie
- Ausblick CRN Nr. 2
- Impressum-Autoren CRN 1-2020-1