Nomis Arbogast Im Frühling 1964 begleitete ich meine Mutter auf eine Reise in die Region um Tan Tan [Südwest-Marokko; Anm. d. Hrsg.], um dort Skandaj für die Vorbereitungen des ta-tscha-ue-medh [Treffen der 42 Stämme; Anm. d. Hrsg.] von 1965 zu treffen.
Eines Abends spazierte ich etwas durch die Wüste, und als ich zurück und an einem Zelt vorbeikam, hörte ich, wie eine Frau Kindern eine Geschichte erzählte. Natürlich konnte ich nicht anders und hörte mir die Geschichte an. Später im Zelt kramte ich dann meinen Notizblock hervor und schrieb alles auf.
Ich dachte mir, dass die Geschichte zu dieser Ausgabe über Macht etwas beitragen könnte, denn sie macht uns – wenn auch auf eine etwas andere Art – bewusst, dass eben auch Wissen Macht ist und die Rechnerei, so sehr wir sie vielleicht in der Schule gehasst haben, uns die Macht gibt, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Und, natürlich, sie gibt einen klitzekleinen Einblick in die Mentalität der Skandaj, die sich ja mit der von David Krieger geschriebenen Nienetwiler Gesellschaftsthese wunderbar deckt.
Es war einmal vor langer Zeit, da kamen die Stämme zusammen, denn etwas Seltsames hatte sich ereignet. Teneak vom Stamm der petientlango sass vor seinem waitipi und betrachtete einen Haufen mit Steinen. Er rührte sich kaum und starrte nur das Geröll aus dem Bach an.
Alle wunderten sich schon, da rief er plötzlich einen Burschen namens tekbe zu sich und sagte zu ihm: «Sieh, ich habe hier Steine. Teile diese Steine gerecht zwischen mir und dir auf!»
Der junge Mann nahm die Steine und legte je einen Stein zu sich und einen Stein zu teneak, bis zuletzt nur noch einer übrig war. «Es ist noch ein Stein, dem einer zum Aufteilen fehlt», sagte tekbe. «Ja, das sehe ich, es ist nicht so schlimm, du kannst die Steine nun zwischen mir, deiner Schwester odo und mir aufteilen.» tekbe rief odo und verteilte nun die Steine auf drei Haufen. Doch siehe da, als er fertig war, waren noch zwei Steine übrig. «Das verstehe ich nicht», sagte tekbe und schüttelte den Kopf. «So hole noch deinen Bruder akka und teile die Steine wieder gerecht.» So rief tekbe auch seinen Bruder und verteilte die Steine nun auf vier Haufen. Doch als er fertig war, lagen da noch drei Steine!
Teneak sah tekbe an und fragte: «Was hast du getan, tekbe? Nun hat jeder weniger Steine und doch hat es noch welche übrig!» tekbe schaute verwirrt und wusste nicht, wie ihm geschah. «Ich habe nichts falsch gemacht!», gab er betroffen zurück.
Teneak lachte und sagte: «Nein, du hast alles richtig gemacht. Ich habe soeben erkannt, dass es Dinge gibt, die man nicht aufteilen kann. Ich kann aber in meinem Kopf nicht verstehen, wie viele Leute wir sein müssten, damit es aufgeht, oder wie viele Steine bei einer gewissen Anzahl Leuten notwendig wären. Ich kann mit meinen beiden Händen einfach nicht alles aufzeigen!»
Da streckte odo ihre Hand hoch und lachte: «Sieh, teneak, ich glaube, dass das dir helfen könnte!» «Was? Du meinst deine Hand?» «Nicht nur meine – du brauchst viele Hände. Viele, viele!» «Ach, und wo soll ich die Hände hernehmen?»
Da nahm odo einen Stock und zeichnete einen Bogen in den Sand und machte fünf Striche drauf. «Hier hast du deine Hand, teneak, und von denen kannst du zeichnen, so viele du brauchst.»
Teneak sah es sich an und sah seine Hände an. So sass er, bis die anderen gingen, und noch weit danach sass er so.
Erst in der Nacht jauchzte er, lief zum Zelt von odo und rief: «odo, komm, du musst mir helfen!»
Und so sassen er und odo viele Tage und Nächte zusammen und assen kaum und flüsterten viel und alle wunderten sich, was da in den Sand gezeichnet wurde.
Nach vielen Tagen riefen sie den ganzen Stamm zusammen und teneak sagte: «Leute, odo und ich haben ein System erfunden, das uns hilft, die Menge von Dingen aufzuschreiben. Und nicht nur das: Wir können Dinge zu anderen Dingen fügen, und das nur mit Zeichen im Sand.»
Niemand verstand auch nur das Geringste von dem Geschwafel. «Sag, teneak, hast du wieder von den Blüten geraucht? Was erzählst du da für einen Unsinn?»
«Seht», sagte odo, «wenn jemand etwas gerecht unter anderen aufteilen möchte, so hilft dieses System aus Zeichen uns, genau zu sagen, welche Menge ein jeder bekommen soll.»
«Ja, das ist sicher interessant», sagte sabel, die Älteste des «Herdes», «aber welchen Nutzen soll das haben? Wenn wir etwas aufteilen, dann tun wir das immer so, dass zuletzt alle glücklich sind. Was müssen wir dafür deine Zeichen zu Rate nehmen?»
odo und teneak sahen sich an. «Du hast recht, sabel, wir haben etwas erfunden, das wir gar nicht gebrauchen können!»
«Nicht ganz – die Zeichen für die Mengen könnten wir vielleicht noch brauchen. Bewahrt aber das Wissen um diese Teilen-Sache, denn wer weiss, was die Tage noch bringen!», erwiderte die alte Frau und zog sich wieder in den Schatten ihres Zelts zurück.
Und so kam es, dass odo und teneak zwar die Zahlen und das Rechnen erfunden hatten, es aber noch tausend Jahre dauerte, bis man das Wissen wieder hervorkramte und anwendete.
Dann aber war es wichtig, denn wie ihr ja alle wisst, bedeutet das Wissen um die Zahlen und das Rechnen Macht, und dieser Macht bedurften die Skandaj, als viel später Menschen sich sesshaft machten, Städte bauten und Handel trieben. Diese erfanden ihre eigene Art zu rechnen und hätten uns sicher übervorteilt, hätten wir es nicht gekonnt.
Und nun geht schlafen und träumt von odo und teneak und was für kluge Köpfe sie doch waren!
Notiz Nomis Thieder Arbogast, Tan Tan, 16. Mai 1964
- Inhaltsverzeichnis CRN 3-2021-2
- Editorial CRN 3-2021-2
- Vorwort CRN 3-2021-2
- Eine kurze Geschichte der Macht
- Das Tagebuch des Jesuiten S.P.
- Untersuchungsbericht
- Über die Natur der Macht
- Wie odo und teneak das Rechnen erfanden
- Die Alajuwörter tu katatehe und home
- Die Funde in den Häusern 6 und 7 in Pompeji
- The Alaju Settlement - Teil 3
- Ausblick auf CRN 4-2022-1
- Impressum und Autoren
- Editorial CRN 3-2021-2