Interview mit Nomis Arbogast

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Einführung

Nomis Thider Arbogast ist der Sohn von d’Aciel Arbogast I., einem der Begründer der Nienetwiler Forschung. Dank ihm gelangte der Nachlass seines Vaters an das Museum Nienetwil. Das ermöglicht die Weiterführung dieser überaus wichtigen Forschungsarbeit und auch die Neuherausgabe der Cahiers de recherches de Nienetwil (CRN). Nomis Arbogast ist einer der noch wenigen überlebenden Nachkommen der Hauptpersonen, denen wir unsere Kenntnisse von Nienetwil verdanken. Denn der Sohn von Amot Nussquammer, der zusammen mit d’Aciel Arbogast I. die CRN begründete und wesentlich an den Deutungen der Nienetwiler Befunde beteiligt war, verstarb früh. Aus diesen Gründen haben wir Nomis Arbogast um ein Gespräch gebeten. Soweit wir wissen, hat er bisher noch nie ein öffentliches Interview gegeben. Wir sind also stolz darauf, dass wir in dieser Ausgabe das erste Interview mit Nomis Arbogast präsentieren dürfen. Wir bedanken uns bei ihm an dieser Stelle für die Bereitschaft, mit uns über sein Leben, sein Werk und seine Verbindung mit Nienetwil zu sprechen.

Die Herausgeber

 

Interview

Das Interview wurde im Juni 2022 geführt

David Krieger: Vielen Dank, Nomis Arbogast, dass Sie sich bereit erklärt haben, dieses Gespräch mit mir zu führen. Ich möchte Ihnen auch im Namen aller, die an Nienetwil interessiert sind, ganz herzlich danken, dass Sie den Nachlass Ihres Vaters dem Museum Nienetwil zur Aufbewahrung übergeben haben. Ohne diese überaus wertvollen Zeugnisse der Frühphase der Nienetwiler Forschung würden wir in vielerlei Hinsicht immer noch im Dunkeln tappen. Wenn Nienetwil heute langsam die Anerkennung erlangt, die ihm gebührt, dann ist dies zu einem Grossteil Ihnen zu verdanken.
Ich möchte mit einer eher persönlichen Frage beginnen: Wie war es, im Schatten eines so berühmten Vaters aufzuwachsen? Aus dem Nachlass Ihres Vaters geht hervor, dass er überall in der Welt herumreiste, viele Kontakte zu Menschen pflegte, die weit verstreut lebten, und selten von seiner Familie sprach. Er scheint sein Volk, die Skandaj, als seine Familie betrachtet zu haben. Was sind Ihre Erinnerungen aus dieser Zeit? Wie war die Beziehung zu Ihrem Vater? Und wie fühlen Sie sich als Erbe von Nienetwil?

 

Nomis Arbogast: Zunächst möchte ich sowohl Dank wie Kompliment zurückgeben. Es war Ihr Verdienst und das unseres gemeinsamen Freundes, dass die Nienetwiler Forschung wieder Fahrt aufnahm.

Ihre Fragen zu meiner Person und meinem Privatleben erstaunen mich etwas, denn weder mein Vater noch ich waren berühmt oder in irgendeiner Art und Weise besonders. Der Grund, weshalb die Familie Arbogast ins Rampenlicht gerückt wurde, liegt lediglich darin, dass ich 1999 Simon Meyer zufällig in einem Bach antraf, wo er am Goldwaschen war. Hätte er einen anderen Skandaj getroffen, der ihm von Nienetwil erzählt hätte, so würden Sie das Interview wohl mit diesem führen.

Was meinen Vater Aciel betrifft, ist es so, dass wir Skandaj keine festen Familienstrukturen haben, wie das hier in Europa meist der Fall ist. Skandaj leben da, wo sie leben wollen, und wer sie grosszieht, wird ata (Vater) bzw. ina (Mutter) genannt. Eine besondere Beziehung zu den leiblichen Eltern gibt es eigentlich nicht, da wir ja alle sozusagen eine Familie sind. Und Eltern kennen ebenso wenig Besitzgefühle für ihre Kinder wie diese für ihre Eltern.

Nach dem frühen Tod meiner leiblichen Mutter Gela, der Gefährtin meines Vaters, wuchs ich bei schuri-Skandaj sowie vielen verschiedenen fahrenden Familien auf. Mit Aciel hatte ich zwar immer wieder Kontakt, ging auch mehrere Male mit ihm auf Fahrt und nahm auch an seinen Expeditionen teil, doch wir hatten nicht diese Art von Vater-Sohn-Beziehung, wie ich das bei vielen Familien hier sehe.

Aciel war ein Getriebener, vielleicht mehr als andere. Er konnte nicht stillsitzen, und selbst in der Zeit in Paris war er mindestens während der Hälfte des Jahres unterwegs. Wäre der grosse Krieg nicht gewesen, er und Gela wären wahrscheinlich mit mir unterwegs gewesen. So aber konnten sie nur auf das Ende dieses Krieges warten.

Sie fragen mich nach meiner Kindheit und meinen Erinnerungen. Nun, so etwas pflegen wir Skandaj nicht. Wir sind ein reisendes Volk, und das, seit es den Menschen gibt. Was war wichtig in jener Vorzeit? Dass man sich Wege, Wasserstellen, fruchtbare Täler und gefährliche Berge merken konnte. Da man selber nicht überall war, musste man die Lieder anderer Skandaj kennen. Die eigenen Erlebnisse waren nur dann zu etwas nütze, wenn sie anderen dienten. So übergaben wir unsere Erinnerungen an alle, und diese behielten sie selbst wiede-rum in Liedern und Spielen am Leben. Und so wie mein Vater und auch unser gemeinsamer Freund stets eine grosse Lust am Erzählen hatten, und ja, es oft fast unmöglich war, zu erkennen, ob etwas nun von ihm oder jemand anderem erlebt worden war oder ob er es geträumt hatte oder als Spiel zum Besten gab, so taten es die Skandaj seit je her. Es ist also nicht wichtig, ob mir mein Vater das Fahrradfahren beibrachte oder nicht. Viel wichtiger ist, dass ich Fahrradfahren und eine gute Geschichte dazu erzählen kann.

Es gibt seit einigen Hundert Jahren den dummen Brauch der Menschen, Geschichte als etwas Wichtiges anzusehen. Das Resultat ist, dass sie nun denken, es gebe etwas wie Geschichte, oder noch schlimmer, es gebe etwas wie Wahrheit. So kommt es, dass in dieser finsteren Zeit, da Machtmenschen den Menschen jeden Unsinn erzählen können, diese es dann glauben – denn wenn Information von der für sie richtigen Person kommt, ist sie in ihren Augen immer wahr.

Es gibt bei den Skandaj ein Spiel, das wir munbe nennen. Dieses geht so: Wenn die Skandaj am Abend um das Lagerfeuer sitzen, beginnt einer zum Beispiel so: «Weisst du noch, als wir den Hirsch mit den drei Köpfen gejagt haben?» Darauf erwidert ein anderer: «Ach, da warst du ja gar nicht dabei! Ich weiss es genau! Und ausserdem hatte der Hirsch nicht nur drei Köpfe, er hatte auch sechs Beine. Wärst du dabei gewesen, wüsstest du das. Wir sind im lekah-Tal gewesen und wollten eigentlich fischen. Da sahen wir im Sumpf am Rande des Bachs die Spuren eines grossen Hirsches mit sechs Beinen. Und so sagten wir uns, jagen wir ihn! So war es doch, Iutah, oder nicht?» «Gewiss doch, so war es», sagt lutah darauf und führt die Geschichte fort.

Was an der Geschichte stimmt, ist, dass es im Lekah-Tal (Lechtal im Tirol ) tatsächlich einen Bach mit grossen Fischen gibt, und es ist auch ein gutes Gebiet, um Hirsche zu jagen. Man sollte, so hat es der eine durch die sechs Beine erklärt, am besten zu sechst jagen, denn das Lechtal ist breit und drei sollten hinter und drei vor dem Hirsch sein.

Solcherart war meine Jugend mit und ohne Vater Aciel, oder sie wird es gewesen sein, nachdem Sie das gelesen haben.

Noch ganz kurz möchte ich auf das «Erbe von Nienetwil» eingehen. Dazu nur so viel: Nienetwil ist immer und überall – wäre es das nicht, wäre es ja nicht Nienetwil. Entsprechend gehört Nienetwil niemandem, denn es ist ja bei und in allen von uns. Es gibt also nichts zu erben, ausser Scherben und alten Kram, der die Nienetwiler Kultur zu beweisen sucht. Aber es geht nicht um das Zeug, das man findet, sondern um die Geschichten (nicht Geschichte) darum. Das ist das Spiel, das wir spielen wollen. Das andere ist uns fade.

Es tut mir leid, dass ich Ihre Fragen wohl nicht so beantwortet habe, wie Sie gehofft hatten, aber ich stehe, wenn Sie noch mögen, gerne für konkrete Fragen zu unserer Kultur zur Verfügung. Und erinnern Sie mich streng daran, dass ich mich kurz halten soll. Ich bin ein altes Plappermaul.

 

David Krieger: Danke für diesen überaus interessanten Einblick in Ihr Leben als Skandaj und über die Beziehung zu Ihrem Vater. Die Welt der Skandaj ist immer noch für die meisten Leuten unbekannt und fremd. Was unsere Leserinnen und Leser sicher interessiert, ist die Verbindung zwischen den Skandaj und Nienetwil. Ich selbst bin durch meine Bekanntschaft mit Amot Nussquammer jun. auf Nienetwil gestossen. Wir waren Studienkollegen an der Universität von Chicago in den USA.
Amot bezeichnete sich selbst nie als Skandaj und sprach von Nienetwil eher als von einer uralten Kultur, vielleicht sogar der ersten «Kultur» der Menschheit, deren Verständnis noch in den Anfängen steht und deren Gedankengut nur bruchstückhaft und mit vielen Unsicherheiten gedeutet ist.
Soweit ich weiss, verstand Amot seine wissenschaftliche Arbeit nicht als Fortführung der Arbeit seines Vaters. Dennoch tauchte der Name Nienetwil in einigen seiner Texte auf oder zumindest schien es, als ob er oft auf Ideen aus der Arbeit seines Vaters Bezug nahm.
Was ist Ihre Beziehung zur Nienetwiler Archäologie und zur Arbeit Ihres Vaters? Man hat den Eindruck, dass Sie in einer ähnlichen Art und Weise wie Nussquammer jun. die Arbeit Ihres Vaters nicht öffentlich weiterführen. Haben Sie, wie dies Nussquammer jun. auch tat, der Wissenschaft den Rücken gekehrt? Haben Sie das Vertrauen in die Wissenschaft verloren? Sie erwähnen das spielhafte Erzählen als etwas, das für die Skandaj von grosser Bedeutung ist. Was ist für Sie die Verbindung zwischen dem Erzählen als sozusagen «Grundform» der Kommunikation und der Wissenschaft, die ja bekanntlich seit den alten Griechen sich von aller Formen des Erzählens ausdrücklich distanziert? Mythos und Logos sind seit den Griechen zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben.

 

Nomis Arbogast: Das ist ein ganzer Korb voller Fragen! Ich werde mich bemühen, sie so gewissenhaft und kurz wie möglich zu beantworten. Das wird nicht ganz einfach sein, also bitte ich um Nachsicht.
Fangen wir mit der ersten, sehr wichtigen Frage an – der Verbindung zwischen Skandaj und Nienetwil. Eigentlich kommt hier noch ein dritter Punkt hinzu, nämlich die Nienetwiler Kultur. Bei dieser möchte ich beginnen. Wie Sie ja wissen, trennte sich der Homo sapiens in Bezug auf wichtige Aspekte seiner Kultur von der des Homo nienetwilensis. Dies in drei wichtigen Bereichen.

Erstens schuf der «moderne Mensch» in vielen Kulturen eine Gesellschaft, die auf Hierarchien aufgebaut ist. Diese waren und sind teils strenger, teils lockerer strukturiert. Das Spektrum reichte von gewählten Anführern für bestimmte Tätigkeiten wie etwa den Bau von Gebäuden bis hin zu komplexen, extrem strukturierten Königreichen wie etwa in Ur oder im vorantiken Ägypten.

Zweitens machten sie sich vor etwa zehntausend Jahren sesshaft. Dieser Umstand veränderte die gesamte Zukunft sowohl der Menschen als auch der ganzen Welt, denn die Sesshaftigkeit führte dazu, dass Nahrungsmittel angebaut wurden, und wenn diese fehlten, wurden sie von anderen Stämmen geraubt. Also gab es Waffen. Es gab Hierarchien, es gab Ausbeutung der Menschen und der Umwelt und so weiter und so fort. Das Gleichgewicht auf der Erde war gestört.
Drittens führte die Sesshaftigkeit zur Bildung von Kasten. Die sozial höher stehenden Kasten zwangen den niedriger stehenden ihren Willen auf. Nicht nur körperlich tat man das – und tut es bis heute –, sondern auch geistig. Sie hatten genug Zeit, sich nicht nur Wissen anzueignen, sondern dieses auch zu verwalten. Gerade heutzutage sehen wir ja, welche Macht Wissensmonopole haben.
Im Gegensatz dazu gab es Völker und Stämme, die sich nicht sesshaft machten oder eine Art saisonbedingter Sesshaftigkeit kannten. Das konnten kleine Zeltgemeinden sein, die nur im Winter beieinander waren oder nur zu einer bestimmten Jagd- oder Fischsaison.
Zu diesen Kulturen gehörte auch die Nienetwiler Kultur. Einer der Stämme der Nienetwiler Kultur sind die Skandaj. Sie bilden, soweit wir das heute wissen, den letzten Stamm, der noch in grossen Teilen als zur Nienetwiler Kultur zugehörig betrachtet werden kann. Aus gerade diesem Grund sind die Skandaj für die Nienetwiler Forschung so bedeutend. Es ist, als wenn wir irgendwo ein kleines Tal entdecken würden, in dem Abkömmlinge der antiken Griechen dasselbe Leben führen würden wie einst Platon oder Aristoteles. Was für ein Forschungsereignis!
Es ist also wie mit der Hand. Daran sind Finger und einer davon ist ein Daumen. Alle Finger gehören zu einer Hand. Der Daumen ist ein Finger, aber nicht alle Finger sind Daumen.
Damit ist Ihre erste und zweite Frage beantwortet: Die Skandaj sind die letzten Überbleibsel der Nienetwiler Kultur.

Und nun zu dem so wichtigen Punkt, der Ihnen offensichtlich Kopfzerbrechen bereitet: Nienetwil.
Nienetwil ist eine Utopie, wie Sie dies so wunderbar in den CRN 2020/1 beschrieben haben.1 Eine Utopie, die bereits Realität geworden ist, allerdings vor vielen Jahrtausenden. Es geht heute darum, mithilfe der Nienetwiler Forschung herauszufinden, was genau wir modernen Menschen von der Nienetwiler Kultur – und also von den Skandaj – lernen können, um unsere Kultur wieder in richtige Bahnen zu lenken, Denk- und Verhaltensmuster zu ändern und wieder zu dem werden, was wir einst, bevor wir sesshaft wurden, waren: Teil der Nienetwiler Kultur!
Natürlich verlangt niemand, dass wir nun ebenfalls alle zu Fahrenden werden. Aber es gibt Tausende Aspekte, die wir dennoch (wieder) annehmen könnten. Unser Umgang miteinander etwa, oder unsere Beziehung zur Erde, um endlich wieder ein Gleichgewicht zwischen dem, was uns umgibt, und uns herzustellen. Aber ich will mich dazu nun nicht auslassen. Es gibt gute Leute, die das besser erklären können als ich.

So gehe ich nun auf den zweiten Teil Ihrer Fragen ein: die Wissenschaft. Wissenschaft ist mein Leben. Ich bin Archäologe und Ethnologe aus Leidenschaft. Ich lehne die Wissenschaften nicht ab und werde auch kein «aber es gibt auch noch etwas anderes als Wissenschaft» anfügen.
Wissenschaft ist ein Handwerk. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Problem ist nicht die Wissenschaft, das Problem ist, dass die Vorgehensweisen in der Wissenschaft von den Menschen nicht verstanden werden. Es ist ihnen nicht klar, dass es einen Unterschied macht, ob etwas eine These oder ein Forschungsresultat ist, und es ist ihnen nicht klar, dass Thesen und Forschungsresultate nur so lange gelten, bis sie widerlegt sind.
Dazu kommt natürlich, dass viele unserer Kolleginnen und Kollegen Dünkel haben. Sie fühlen sich einer Kaste zugehörig, die über anderen steht. Die Coronakrise hat das wieder einmal deutlich zutage gebracht.
Die archäologische Forschung, die Nussquammer sen. und mein Vater betrieben, war – um es freundlich auszudrücken – stümperhaft. Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich die alten Grabungsberichte lese. Dennoch war es eine wichtige Arbeit, die uns viele Resultate gebracht hat, auf denen wir aufbauen und unsere Forschung – von der dereinst ebenfalls jemand sagen wird, dass sie stümperhaft war – weiterführen können.

Und so komme ich nun zu der letzten Frage, nämlich was für mich die Verbindung zwischen dem Erzählen als Grundform der Kommunikation und der Wissenschaft ist, die dieses Erzählen, wie Sie sagen, ausdrücklich ausschliesst. Ich bin da nicht ganz Ihrer Meinung. Die wissenschaftliche Literatur, und ich meine nicht explizit die populärwissenschaftlichen Druckerzeugnisse, ist voller ganz grossartiger Erzählungen. Zugegebenermassen ist dies in den geisteswissenschaftlichen Werken eher der Fall als beispielsweise in der Medizin oder Informatik, aber sie sind da. Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist die der Legitimation von Geschichten als Informationsmedium.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Wenn ich in der Werkstatt bin und eine Dose Farbe aufmachen möchte. Soll ich dann in den Laden gehen und ein Dosenaufmach-Werkzeug kaufen? Nicht doch, oder? Ich nehme einen passenden Schraubenzieher. Ist das legitim? Natürlich ist es das. Glei-chermassen legitim ist es auch, wenn ich anhand einer Geschichte wie zum Beispiel der Grimm’schen Geschichte «Der König ohne Kleider» eine Einleitung zu gesellschaftlichen Missständen in Bezug auf Autoritäts- und «Star»-Gläubigkeit machen will und danach diese Geschichte quasi wissenschaftlich ausarbeite.
Die Geschichten, die wir uns erzählen, sind zwar ausserhalb der Ordnung der Wissenschaft (ausser sie sind selbst Forschungsgegenstand), aber sie tragen zu einem schnellen Verständnis des Sachverhalts bei, denn die meisten Menschen verstehen Märchen auch ohne Abschluss in Soziologie, Philosophie oder anderen Fächern.
Es ist Geschichten möglich, einen Sachverhalt schnell und gut memorierbar weiterzugeben, und das, wie wir wissen, über Jahrhunderte und gar Jahrtausende.

Die Arten, wie in der Nienetwiler Kultur und auch anderen Kulturen Geschichten weitergegeben werden, sind vielfältig. Geschichten werden in Spiele integriert oder in Tänze, in Rituale oder Lieder. Und wie wir heutzutage nicht nur in Filmen, sondern auch in Werbebotschaften – wo ja immer «eine Geschichte transportiert» werden soll – sehen, werden heute nicht weniger Geschichten erzählt als früher. Die Frage, ja die ganz grosse Frage ist wohl: Was machen wir daraus?

 

David Krieger: Mich fasziniert Ihre Behauptung, dass es eigentlich keinen Unterschied zwischen Erzählung und Wissenschaft, zwischen Mythos und Logos gibt. Nicht nur die griechischen Philosophen, sondern Descartes, Galileo und Newton, die Gründer der modernen Wissenschaft, waren sehr darauf erpicht, alle Geschichten aus der Wissenschaft zu verbannen. Es sollen nur die objektiven Tatsachen sprechen und alle Geschichten über Götter und Geister haben nichts in der Wissenschaft zu suchen. So klar diese Trennung zwischen Mythos und Logos ist, erstaunt es umso mehr, dass die Wissenschaftler heute nur fantastische Geschichten erzählen.
Einige Physiker sagen, dass es keine Zeit gibt, nur Raum. Andere sagen, dass es keinen Raum gibt, sondern nur Zeit. Noch andere sagen, dass es weder Zeit noch Raum gibt, sondern nur unfassbare Quantenfelder, woraus Materie auf mysteriöse Art und Weise erscheint.
Es gibt Physiker, die behaupten, dass es unzählige Universen gibt, während andere sagen, dass es nur eines gibt.
Ein renommierter Physiker sagt, dass neue Universen innerhalb von schwarzen Löchern entstehen, und andere sagen, dass die Realität sowieso eine Simulation ist.
Eine weit verbreitete Theorie besagt, dass das Universum aus elf Dimensionen besteht, wobei wir nur vier erleben können.

Doch nicht nur die Physiker erzählen fantastische Geschichten, sondern auch Biologen. So behauptet einer, dass die Realität, die wir erleben, nur eine Konstruktion unseres Hirns ist, eine Illusion, die uns hilft – oder helfen sollte – zu überleben.

Was bietet uns also die Wissenschaft heute? Lauter Erzählungen – Erzählungen, die nicht weniger fantastisch sind als das, was man in der Science-Fiction-Literatur findet. Alle diese sogenannten «wissenschaftlichen» Theorien sind nicht empirisch überprüfbar und entbehren demnach jeder Wahrheit.
Sie haben, so scheint es auf jeden Fall, nur «Unterhaltungswert», also genau das, was Platon und Aristoteles den Dichtern und Erzählern des Altertums vorgeworfen haben. Wenn dies so ist, wie es scheint, dann gibt es tatsächlich keinen Unterschied zwischen Wissenschaft und Erzählung.

Dies führt zur Frage: Gibt es nicht Erzählungen, die nicht nur Unterhaltungswert, sondern auch Wahrheitswert haben? Sie haben gesagt, dass Nienetwil eine Utopie ist. Utopien wurden nie bloss als Unterhaltung geschrieben. Utopien waren zwar Fiktionen, aber Fiktionen, die Wahres zur Sprache bringen. Wie würden Sie Nienetwil einstufen? Was macht eine Erzählung wahr beziehungsweise was macht Ihrer Meinung nach eine «gute» Erzählung im Gegensatz zu einer schlechten Geschichte aus?

 

Nomis Arbogast: Sie erwähnen da einige interessante Theorien aus der Welt der Wissenschaft. Im Verständnis der Nienetwiler Kultur gibt es aber kein richtig oder falsch, kein wahr oder nicht wahr, da ja grundsätzlich alles real ist, wir jedoch nicht an allem teilnehmen.
Das Wort dafür heisst in der Skandaj-Sprache Alajube, also Möglichkeit. Da alles möglich ist, gibt es auch keine Wahrheit oder Wirklichkeit, es gibt nur einen Erlebnismoment, in dem man mit anderem/anderen verbunden ist, und Momente, die wahrscheinlicher auftreten als andere. Dass ein vom Tisch gefallenes Glas, das zerbrochen auf dem Boden liegt, sich wieder zusammensetzt und auf den Tisch zurückspringt, ist nicht unmöglich, es ist nur sehr unwahrscheinlich, dass wir das erleben werden.

Zu Ihrer Frage bezüglich Erzählungen: Dazu möchte ich als Beispiel das Skandaj-Spiel «kankele» anführen.
Sicher wird es mir möglich sein, in einem saparaten Artikel unsere Erkenntnisse dazu noch ausführlicher darzulegen.1 Hier sollte es genügen, wenn ich erzähle, dass es sich um ein Erinnerungsspiel, oder wenn Sie so wollen, ein Überlieferungsspiel handelt. Dabei erklärt eine Spielerin oder ein Spieler anhand einer frei ausgedachten Erzählung den Weg von A nach B. Dabei werden alle paar Schritte Steine, die mit einem Symbol versehen sind, verdeckt abgelegt. Bevor sie abgelegt werden, wird das Symbol gezeigt.Die anderen Mitspielenden müssen nun einen Stein nach dem anderen passend zu den abgelegten legen und dabei die Geschichte so genau wie möglich nacherzählen. Zum Schluss wird dann der Weg anhand der Geschichte gesucht.
Sinn des Spieles ist natürlich, dass die Kinder erstens ihr Erinnerungsvermögen auf spielerische Art trainieren und zudem auch ihre Fantasie benutzen, denn diese ist, gerade um präzise erzählen zu können, stark gefordert.
Auf diese Weise wird also Wissen spielerisch in eine unterhaltende Erzählung gepackt.
Die Utopie Nienetwil ist in gewissem Sinne ebenso eine Erzählung, denn es ist zwar eine fantastische Geschichte, sie birgt in sich jedoch eine grosse Menge an «Wahrem» im Sinne von sehr Möglichem.
Eine «gute» Erzählung könnte also so beschrieben werden, dass sie etwas beinhaltet, das in unterhaltsamer Weise Wissen mehrt.
Ich will hier kein Urteil über den Unterhaltungswert der heutigen Erzählungen, wie sie im Fernsehen gezeigt werden, abgeben – sicherlich gibt es bessere und schlechtere. Egal aber, wie sie sind – sie haben unsere Fantasie kastriert, indem sie uns von Erzählenden zu Konsumierenden gemacht haben. Man kann den Geschichten nichts mehr entnehmen und nichts mehr aus ihnen lernen, sondern wird nur noch unterhalten. Und weil dabei die Fantasie abhandengekommen ist, werden nicht nur die Geschichten und die Unterhaltung immer eintöniger, auch Lösungsansätze für Probleme werden es. Sie werden eindimensional und ohne Fantasie entwickelt – auch das, was heute Produktdesign genannt wird, oder die Pseudo-Lösungsansätze in Bezug auf die Klimakrise).

Immerhin ist die Fantasie nicht ganz weg und es gibt immer noch Menschen, die sie haben und pflegen. Ob sie uns dann ihre Geschichten in einem guten Lied oder einem brauchbaren Produkt präsentieren, als literarisches oder künstlerisches Werk oder als wissenschaftliche Arbeit, spielt keine Rolle.
Ziel müsste aber sein, dass wir diese Fähigkeit der Nienetwiler Kultur in der modernen Welt wieder stärken können. Oder wie mein Vater einst rief: «Lang lebe das Seemannsgarn!»

 

David Krieger: Der Ausspruch Ihres Vaters ist ein geeignetes Schlusswort für dieses Interview. Ich möchte Ihnen auch im Namen unserer Leserinnen und Leser herzlichst für dieses Interview danken. Es war zugleich lehrreich und unterhaltsam, mit Ihnen zu sprechen, und was sicher deutlich zum Ausdruck gekommen ist, ist der spielerische Charakter von Nienetwil.

Ein Seemansgarn, das Fantasie, Halbwissen und Wissen verband. Eine Illustration aus der Originalausgabe von «Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer» des Autors Jules Verne aus dem Jahr 1870.