Die Machthaber sind machtlos! Das von Helmut Willke und anderen konstatierte «Versagen der Politik» angesichts globaler Probleme wie Klimawandel, Pandemie, eines ausser Kontrolle geratenen Finanzsystems, Terrorismus, Migration und fast jedes andere dringende Problem der Gegenwart zeigt, dass die Politik keine Macht mehr hat. Anstelle der Machtausübung zur Sicherung von Frieden und des Gemeinwohls erleben wir auf allen Stufen ein zunehmend sinnloses Streben nach Machterhaltung als Selbstzweck politischen Handelns. Der territorial begrenzte Nationalstaat hat ausgedient und schafft mit jeder politischen Entscheidung noch mehr Probleme, als er löst. Offensichtlich hat Macht sich in andere Bereiche der Gesellschaft verlagert und steuert die Gesellschaft über andere Kanäle und Prozesse als über traditionelle politische Entscheidungen. Wenn überhaupt noch «entschieden» wird, statt das ziellose Auswirken von Systemzwängen, dann geschieht dies verstreut durch globale Netzwerke, deren Funktionsweisen für Politiker und Bürger zugleich undurchschaubar sind. Wenn die Politik in ihren traditionellen Formen ein Auslaufmodell ist, was nimmt ihre Stelle ein? Wie kann die globale Netzwerkgesellschaft, die kein Zentrum und keine Hierarchie kennt, «gesteuert» werden? Was bedeutet Macht in einer Welt, die nicht mehr politisch oder sozial in Nationalstaaten geordnet wird? Wie können die traditionellen Themen der Politik wie Souveränität, Repräsentation, Legitimation, Gerechtigkeit, anders verstanden werden, damit es möglich wird, die Frage der Macht neu zu stellen und zu beantworten? Diese Fragen öffnen die Möglichkeit, utopische Visionen wieder zu aktivieren und zur Geltung zu bringen. Vielleicht bietet uns die Nienetwiler Forschung Chancen, neu zu denken und zu handeln.
Macht ist überall, nicht nur in der Politik. Es gibt die Macht der Wirtschaft und des Geldes. Es gibt die Macht der Medien, des Wissens, der Information, der Werbung, aber auch die Macht der Dummheit und der Ignoranz. Es gibt die Macht der Erziehung und der Familie und die Macht des Volkes. Es gibt die Macht der Vereine – vor allem Sportvereine –, aber auch die Macht der Gewerkschaften und Verbände. Es gibt symbolische Macht und virtuelle Macht. Macht ist überall, aber wer wähnt, Macht zu besitzen, muss dauernd fürchten, sie zu verlieren. Macht ist wie Wasser. Sie fliesst, wo sie will, auf verschlungenen Wegen. Macht ist ein Mysterium.
Die Nummer 3 der Cahiers de recherches de Nienetwil widmet sich dem Mysterium der Macht. Es gibt viele Theorien über Macht, aber die Frage, was Macht ist, bleibt unbeantwortet oder zumindest unbestimmt und immer umstritten. Was ist Macht? Woher kommt sie? Wie wirkt sie in der Welt und warum wirkt sie so und nicht anders? Was macht Macht «gut» oder «schlecht»? Und was wird aus Politik, wenn Macht nicht mehr ausschliesslich oder gar überhaupt «politisch» ist? Aus den Forschungen von Aciel Arbogast, Amot Nussquammer und ihren beiden Söhnen wie auch aus den Lebenserfahrungen von Miribal Ciséan sind viele wertvolle Zeugnisse einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Fragen noch erhalten. Sie zeigen, dass die Nienetwiler in einer Welt lebten, deren Ordnung nicht auf Politik gründete oder gar Politik brauchte. Trotzdem haben die Nienetwiler eine Lebensweise gepflegt, die Ordnung hervorbrachte anstatt Chaos. Können wir heute von der Weisheit der Nienetwiler lernen? Die Herausgeber sind überzeugt, dass obwohl Nienetwil eine Utopie ist, sie sich nicht in einer anderen Welt befindet, die uns nichts angeht, sondern tief in den Wurzeln unserer realen Welt verborgen liegt. Sie bietet uns demnach die Möglichkeit, neu aus diesen Quellen zu schöpfen, um die Vision einer tragbaren Zukunft zum Erscheinen zu bringen.
Die Herausgeber
Simon Meyer
David Krieger
- Inhaltsverzeichnis CRN 2-2021-1
- Editorial
- Einleitung der Herausgeber – Utopie als Gesellschaftsdesign
- Peter Friedrich Stephan über Design
- Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design
- Biografie Amot Nussquammer jun
- Briefwechsel Nussquammer – Arbogast
- Alaju: Die Wörter «be», «gabe», «tobe»
- Grabungsbericht und Fundinterpretation N1/1 «Skandi-Stein»
- Biografie Patrizia Am Rhyn
- The Alaju Settlement - Teil 2
- Ausblick CRN N° 3-2021/2
- Impressum / Autorin und Autoren CRN 2