Bisher wurden Utopien von der «realen» Gesellschaft negiert und ins Nichts verbannt. So verschwanden sie im «Nirgendwo». Nienetwil ist aber eine Utopie, die nicht im Nichts, sondern im Gegenteil überall ist. Ist in diesem Fall die heutige Gesellschaft nicht mehr real? Der zunehmende Realitätsverlust heutiger Politik und Wirtschaft angesichts des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie könnte als Zeichen dafür gedeutet werden, dass die Gesellschaft wortwörtlich von der Realität abdriftet und damit Utopien den Platz freimacht für die Vision einer tragbaren Zukunft.
Wir leben heute im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen. Der Mensch nimmt entscheidenden Einfluss auf biologische, geologische und atmosphärische Vorgänge. Heute wissen wir: Der Mensch verändert nicht nur sich selbst durch das Schaffen von Kultur und Technik, sondern die ganze Welt. Dieser Prozess ist schon lange im Gange. Er begann schon vor 3 Millionen Jahren – eine kurze Zeit in der Erdgeschichte! –, als ein Hominide, also ein Urmensch, einen Stein in die Hand nahm. Er arbeitete an und mit dem Stein und eine Axt entstand. Dieses vollkommen neuartige Ding, das nicht mehr nur Stein war und unzertrennlich mit dem Hominiden verbunden war, veränderte die Welt. Die Axt veränderte nicht nur die Urmenschen, die dadurch zu Jägern, Kriegern oder Bauern wurden, sondern der Stein verlor sein ursprünglich rein natürliches Dasein und wurde zu einem Artefakt, einem Stück Kultur. Seitdem wird die ganze Welt, werden Stein für Stein, Wald für Wald und Ozean für Ozean zu Artefakten, untrennbar verwoben mit den Menschen und seinen Tätigkeiten. Was sind diese weltverändernden Tätigkeiten? Man spricht heute von Geoengineering, genetischem Engineering und nicht nur vom Engineering von Maschinen, Häusern und Städten. Es gibt nichts mehr, nicht einmal das Weltall, das zunehmend mit Schrott zugemüllt wird, das nicht in diesen Transformationsprozess eingebunden wäre. Man kann sich zwar die Worte Voltaires zu Herzen nehmen, wonach man sein Gärtlein pflegen solle. Doch das Gärtlein ist inzwischen zur Welt angewachsen und die Frage, wie man diesen Weltgarten «pflegen» soll, ist von zentraler, ja lebenswichtiger Bedeutung geworden.
Im dieser zweiten Nummer der Cahiers de recherches de Nienetwil widmen wir uns der Frage, was Utopie mit Design zu tun hat. Warum ist Design heute in allen Bereichen so wichtig geworden? Ist vielleicht Design das Wort, mit dem wir nun alles bezeichnen sollten, was der Mensch als Hauptakteur des Anthropozäns tut? Wenn der Urmensch, der die erste Steinaxt formte, eigentlich ein Designer war, wenn jede Interaktion des Menschen mit Materie, Natur und der Erde letztlich als Design betrachtet werden kann und dadurch der Frage ausgesetzt ist, ob es gutes oder schlechtes Design ist, dann wird Design zum Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts. Ist dies Zufall? Oder holt uns die Vergangenheit endlich ein?
Nach aktuellem Wissensstand über die Nienetwiler Kultur spielt bei den Nienetwilern «Design», obwohl sie kein Wort dafür haben, eine wichtige Rolle. Denn die Menschen der Frühgeschichte waren vor allem Designer. Um ein Artefakt herzustellen, selbst wenn es nur eine simple Steinaxt ist, muss man es nicht einfach «machen», sondern muss vieles berücksichtigen. Es geht nicht bloss um Funktionalität, die oberflächlich verschönert wird, sondern um den ganzen Prozess der Weltänderung, die dadurch in Gang gesetzt wird. Es geht darum, dass der Mensch und die Dinge zusammenkommen – oder wie die Nienetwiler sagen: sich versammeln –, um etwas Neues entstehen zu lassen. Miribal Ciséan (siehe zweiter Teil aus ihrer Autobiografie in dieser Nummer) berichtet von einem Vortrag, den Aciel Arbogast im Oktober 1934 an der Sorbonne hielt. Arbogast beschreibt darin, was Design als «schöpferischer Akt» für die Nienetwiler bedeutet:
«Wer behauptet, dass ich mich nicht eins fühle mit den Dingen, dass sie bei meinem Denken, Handeln, Fühlen, ja bei meinem Sein nicht Teil sind von mir und ich von ihnen, hat das System des ‹scandi›, des schöpferischen Aktes, nicht verstanden.
Denn wenn ich erschaffe, erschaffe ich nicht alleine. Es ist nicht einzig mein Handeln, es ist das Handeln mit Partnern, mit Freunden, es ist ein gemeinsames Singen, das ein Lied ergibt, das uns beide, uns alle erfasst.»
Obwohl dieses ursprüngliche Erlebnis des schöpferischen Handelns weitgehend verloren gegangen ist, wird Design heute nicht mehr als ein blosses ästhetisches Add-on zu funktionalen Gegenständen verstanden. Heute wird alles, was Menschen tun, unter den Begriff «Design» subsumiert. Wie der französische Ethnologe und Soziologe Bruno Latour sagt: Die Bedeutung von Design «hat sich erweitert von den Details alltäglicher Gegenstände hin zu Städten, Landschaften, Nationen, Kulturen, Körpern, Genen, und der Natur selbst» ((Quelle angeben)). Heute sprechen wir von Business Design, Design Thinking, Designer-Babys und Life Design. Design umfasst nicht mehr nur Konsumgüter, technische Artefakte oder Kulturgegenstände. Auch die soziotechnischen Netzwerke, in denen wir heute – und in Zukunft noch mehr – leben, seien es Kommunikationsnetzwerke, Verkehrsnetzwerke, Energienetzwerke, smarte Häuser und Smart Citys etc., sind alle in komplexen Prozessen von Design entstanden. Die Frage drängt sich deshalb auf: Gibt es heute überhaupt etwas – wir Menschen und unsere Gesellschaft inbegriffen, ja die ganze Erde im Hinblick auf das Anthropozän –, das nicht in vielerlei Hinsicht als Produkt von Designprozessen verstanden werden müsste?
Wir können den Menschen nicht von heute auf morgen zu einem anderen machen, denn: Den Menschen gibt es nicht. Es gibt nur die Menschheit und die Welt, in der wir Menschen leben. Individuen und alles, was sie umgibt, bilden zusammen ein «Kollektiv», oder wie die Nienetwiler sagen würden, eine «Sammlung». Das Kollektiv besteht jeweils aus den Regeln, Institutionen und Gewohnheiten – ob politisch, moralisch, erzieherisch, religiös, gesetzlich etc. –, die als kulturelle Konstanten verstanden werden können.
Zu diesen Konstanten gehört auch das geschichtliche Erinnern. In diesem wird für das Kollektiv die Erinnerung an seine Vergangenheit aufbereitet. Das geschieht immer wieder neu und ist immer aus vielfachen Interessen, etwa politischen, religiösen oder wirtschaftlichen, instrumentalisiert. Ob im antiken Ägypten, bei den Griechen und Römern, in den chinesischen Reichen, bei den Maya und Azteken, den Stämmen Nordamerikas oder Afrikas: Überall zeigt sich, dass nicht die Vergangenheit eine Konstante ist, sondern nur, dass in einer bestimmten Art und Weise daran erinnert wird. Was heisst aber «daran erinnern»? Ist das Erinnern, die Wiedervergegenwärtigung der Vergangenheit, die ja immer von Visionen geleitet wird, eine Art von Design? Geschichte ist nicht ein unendlich grosses Sammelsurium von sogenannten Tatsachen, sondern notwendigerweise ein Resultat eines Designprozesses, der uns das, was Latour «Matters of Concern» nennt, zur Entscheidung – politisch, sozial, kulturell, künstlerisch etc. – vorbereitet. Solche Matters of Concern, auf Deutsch «Dinge, die uns angehen», sind zum Beispiel der Klimawandel, die globale Migration, die Pandemie, die Frage der richtigen Erziehung, tief verwurzelte Diskriminierung und Ungerechtigkeit oder die Funktion von Kunst in der Gesellschaft und vieles mehr.
«Visionäre Vergangenheit» ist das Gerüst, auf dem wir die Utopie von Nienetwil aufbauen. Um dieses Gerüst einer «visionären Vergangenheit» zu bauen, haben wir «unsere» Vergangenheit ebenso angepasst, wie das seit Jahrtausenden gang und gäbe ist. Wir haben einfach etwas dazuerfunden, das unserer Utopie Legitimation verschafft. Wir haben ein alle Völker und Kulturen verbindendes Element erfunden. Etwas, das wir alle gemein haben, das in jeder und jedem von uns steckt und eigentlich schon immer raus wollte. Wir haben die Nienetwiler Kultur erfunden, oder vielleicht sollten wir sagen: wiederentdeckt. Eine Kultur, die auf dem mit dem Homo sapiens verwandten Homo Nienetwilensis basiert. Wir haben dazu eine Sprache erfunden, die auf den Sprachen der Welt gründet – von Armenisch, Baskisch, Cree über Indoeuropäisch, Maori weiter bis Zulu. Wir haben kulturverbindende Elemente wie Lieder und eine Schrift erfunden. Dazu kommen archäologische Funde, die all das belegen, und wir haben Menschen erfunden, die in ihren Biografien von dieser Kultur berichten. Nicht zuletzt haben wir auch eine These zur Gesellschaftsstruktur der Nienetwiler Kultur erfunden, die der Utopie – quasi als nährender Boden – beim Wachsen helfen soll.
Wenn wir uns als Gesellschaftsdesignerinnen und -designer verstehen und darauf einlassen, die von Nienetwil eröffnete Vergangenheit weiter auszubauen und sie in die bereits bestehenden Erinnerungen zu integrieren, wird sie das Jetzt und das Morgen beeinflussen. Sie wird also zu einem wichtigen Faktor beim Handeln im Jetzt. Zu diesem Zweck veröffentlichen wir in dieser Nummer der CRN Beiträge über die Bedeutung von Design als wesentliches Merkmal menschlichen Handelns, als utopisches Handeln, als die Art und Weise, wie wir heute die uns durch die Geschichte gegebenen «Matters of Concern» aufnehmen und annehmen. Wir sind überzeugt: «Design» wird zum zentralen Begriff des 21. Jahrhunderts.
Belege für diese Überzeugung finden wir zunächst in einem bis jetzt unveröffentlichten Text von Amot Nussquammer jun. zum Thema Ende der Arbeit und der Anfang von Design. Nussquammers Text wurde für die vorliegende Ausgabe der CRN aus dem Nachlass übersetzt und redigiert. Da wir davon ausgehen müssen, dass Nussquammer unserer Lesenden nicht bekannt ist, fügen wir eine Kurzbiografie bei. Darauffolgend haben wir die Ehre, einen Artikel des Professors für Transformation Design an der Kunsthochschule für Medien in Köln, Peter Friedrich Stephan, besprechen zu dürfen. Prof. Dr. Stephan ist ein führender Theoretiker wie auch Praktiker des erweiterten Design-Verständnisses, dessen Wurzeln wir in der Nienetwiler Kultur zu finden glauben. Anschliessend geben wir in redigierter Form einen Briefwechsel zwischen Amot Nussquammer sen. und Aciel Arbogast wieder. Die zwei Gründer der Nienetwiler Forschung haben früh erkannt, welches Potenzial im Nienetwiler Gedankengut für eine Neuorientierung in wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft liegt. Der Briefwechsel behandelt das Problem der Erziehung als Problem des Designs. Da die Nienetwiler kein Wort hatten für das, was heute unter Design verstanden wird, diskutieren Arbogast und Nussquammer die von Arbogast erforschten Nienetwiler Wörter «be», «gabe» und «tobe». Diese Begriffe erweisen sich als grundlegend für entscheidende Einsichten über das, was Erziehung bedeuten und wie dies mit dem umfassenden Konzept von Design, das heute allmählich an Bedeutung gewinnt, zusammenhängen könnte. Nienetwil ist nicht nur Sprachforschung, sondern vor allem Archäologie. Die archäologischen Grundlagen unseres heutigen Verständnisses von Nienetwil wurden von Arbogast Vater und Sohn gelegt. Der Sohn, Prof. Dr. Nomis Arbogast, und dipl. Ing. Hermann Tobler sind die Autoren des Berichts «Skandi»-Stein der Siedlung «Nienetwil 1» aus der Grabung N1/1 – Grabungs- und Fundbericht sowie Wissenswertes über den Zweck des Steines in der Nienetwiler Kultur, der in der vorliegenden Ausgabe der CRN einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird. Schliesslich führt diese Nummer der CRN die Veröffentlichung der Autobiografie von Miribal Ciséan weiter: Nicht nur ist Miribal eine wichtige Zeugin der turbulenten Ereignisse jener Zeit, sondern ihre persönliche Geschichte bleibt eine Inspiration und eine Quelle für die Nienetwiler Forschung.
Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, spannende und lehrreiche Unterhaltung!
Die Herausgeber
David Krieger und Simon Meyer
- Inhaltsverzeichnis CRN 2-2021-1
- Editorial
- Einleitung der Herausgeber – Utopie als Gesellschaftsdesign
- Peter Friedrich Stephan über Design
- Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design
- Biografie Amot Nussquammer jun
- Briefwechsel Nussquammer – Arbogast
- Alaju: Die Wörter «be», «gabe», «tobe»
- Grabungsbericht und Fundinterpretation N1/1 «Skandi-Stein»
- Biografie Patrizia Am Rhyn
- The Alaju Settlement - Teil 2
- Ausblick CRN N° 3-2021/2
- Impressum / Autorin und Autoren CRN 2