Die Funde in den Häusern 6 und 7 in Pompeji

Nomis Arbogast In den 1930er-Jahren wurde in Pompeji am hintersten Ende der «Via di Nola», gleich vor der «Porta di Nola», das sogenannte «hospitium viatores» oder auch «Herberge der Wanderer» (offiziell: Regio III Insula 12, Haus 6/7 – RIII.12.6 + 7) teilweise freigelegt. Die Grabungsarbeiten, an dieser Stelle angeregt durch d’Aciel Arbogast, wurden jedoch wegen Streitigkeiten um die Wichtigkeit des Hauses beendet und Arbogast der weitere Zugang zu Pompeji versagt.

Aufgrund eines Erdeinbruchs an der nordöstlichen Ecke, die wohl wegen Erdarbeiten an der nahe gelegenen Bahnstrecke ausgelöst wurden, musste 2020 eine Notgrabung eingeleitet werden. Unter der Leitung des Archäologen Teodoro Sassio wurde von der Via di Nola bis zu der Stelle des Erdeinbruchs ein Schnitt von 2 Metern Breite ergraben. Um die Sicherungsmassnahmen gut durchführen zu können, mussten zudem die Räume 7.2 und 7.5 vollständig freigeräumt und die Mauer hinterfangen werden. Das Gebäude zeigte sich leider in einem relativ schlechten Zustand, da die Aussenwand von Raum 7.5 ganz und von dem daneben liegenden Raum 7.3 teilweise eingebrochen war. Dies war wohl noch zur Zeit der Vesuv-Katastrophe und unter dem Druck der auf dem Dach lastenden Asche geschehen.
Dennoch konnten in den Räumen interessante Funde gesichert werden. Am nördlichen Türsturz wurde in Latein UND Alaju der Satz «salvete viatores» respektive «aju tawait» – also in etwa «Willkommen Wanderer» – entdeckt. Im Gebäude selbst wurden 71 Gegenstände freigelegt.

Wir wollen uns an dieser Stelle, obwohl es äusserst spannend wäre, nicht mit allen Funden und Befunden beschäftigen, sondern greifen vier heraus, die uns im Zusammenhang mit der Nienetwiler Forschung als besonders wichtig erscheinen. Der gesamte Grabungsbericht wird übrigens voraussichtlich 2023 publiziert werden. Ebenso mögen sich jene, die an Pompeji interessiert sind, in die entsprechende Literatur einlesen; uns fehlt hier der notwendige Platz dafür.

Sozusagen die «Hauptattraktion» ist natürlich die in der nordwestlichen Nische gefundene, fast vollständig erhalten gebliebene Ton-Büste. Sie zeigt möglicherweise, wie es damals teils Sitte war, den Hausherrn, dessen Name allerdings nicht überliefert ist.

Nebst der Büste wurden auch Fragmente von Alaju-Wörtern in Ch’apis-Schrift auf Bleiblechtäfelchen, mehr aber noch auf Birkenrinde gefunden.

Die Büste
Die lebensgrosse Büste (Fundnummer R-III.Ins-12.C-6.N91’859 – Bild siehe Anhang) wurde in Ton und hohl gefertigt und zeigt einen erwachsenen Mann. Wahrscheinlich durch die Hitzeeinwirkung bei der Zerstörung Pompejis durch den Ausbruch des Vesuvs ist die Deckschicht mit der Farbfassung des Gesichts zu grossen Teilen abgeplatzt. Allerdings sind noch Reste vorhanden und so ist auch die Farbgebung noch relativ gut auszumachen. Die Büste zeigt einen Mann mittleren Alters mit Oberlippen- und Kinnbart. Das Kopfhaar fehlt und ist entweder erodiert oder der Mann wurde mit Glatze dargestellt.
In die Unterseite wurden die Zeichen für Kopf, Mensch und Mund geritzt, was auf die Initialen SMI deuten könnte.

Da wir davon ausgehen, dass das Haus 6/7 tatsächlich ein «hospitium», also eine Herberge für Skandaj war, könnte es sein, dass es sich bei der Büste um die älteste bis heute bekannte Darstellung eines Skandaj handelt.

Schriftstücke
Eines der Bleitäfelchen (Fundnummer R-III.Ins-12.C-7.N91’874), das in Haus 7 gefunden wurde, trug folgende Aufschrift:

Atilius Crescens
Ms (mitto salvete?)
ciconiae ad lacum occ (occidentalem?) Tacape hieme volant
etor

Die Schrift konnte mittels eines Röntgenverfahrens sichtbar gemacht werden. Das schlechte Latein und der Name etor lassen darauf schliessen, dass die Nachricht von einem Skandaj stammt und an den Römer Atilius Crescens gerichtet war (dieser war ein Freund von Plinius dem Älteren).

D’Aciel Arbogast schreibt in seinen Aufzeichnungen von 1931: «Unsere Überlieferung [bzgl. des Hauses RIII.12.6, Anm. Hrsg.] lässt hier keinen Spielraum für Mutmassungen. Wir wissen, dass wir [mit ‹wir› meint er die Skandaj, Anm. Hrsg.] an dieser Stelle ein Haus betrieben haben, in welchem Skandaj nicht nur auf ihren Reisen Rast einlegen konnten, sondern es diente ebenso für allerlei Versammlungen, unter anderem auch mit Zugehörigen der römischen Oberschicht, die sich immer wieder gerne in Pompeji blicken liessen. Anders als im ‹politischen› Rom waren diese in Pompeji entspannter und Gespräche daher wesentlich einfacher zu führen. Ich verweise dabei gerne auf das Epos «po wai te nuk», das die grosse Wanderung des Skandaj nuk und seine Vermittlungsversuche zwischen den Skandaj-Stämmen und dem römischen Reich zum Inhalt hat. Ab Strophe 547 heisst es da:

547
Gleich nach dem Tor im Westen
Zur Herzseite (links) findest du
Nach langer Wanderung
Das Haus der Skandaj
Dort erhole dich, nuk, im kühlen Garten

548
Im Haus der Skandaj wartete nuk
Wartete und schnitzte Vögel
Auf Plinius wartete er
Mit ihm über Dinge zu sprechen
Dass es den Skandaj besser ginge

549
Dreissig Vögel hatte nuk geschnitzt
Alle, die er in Pompeji sah
Als Plinius kam, schenkte er diesem
einen Star aus Olivenholz
mit einer Olive im Schnabel

[Von Strophe 549 ist eine Alaju-Fasssung aus dem 1. Jh. n. u. Z. erhalten:
Metscha.puxo.apis.nuk;
Hen.acant.nuk.ul.pompei:
den.Plini.nu,an.den.nuk;
serexo.atek.od.olipu.
nan.oli.ul.akeii: Anm. d. Hrsg.]

Zweitausend Jahre hat sich die Überlieferung gehalten und auch die Wegbeschreibung!»

Auch aus anderen Überlieferungen geht hervor, dass sich verschiedene ankele (gewählte Sprecherinnen und Sprecher) in Rom, Baiae oder Pompeij mit Vertretern der römischen Oberschicht, inklusive Abgesandten der Kaiser, trafen. Meist geschah dies, um Rechte für die Skandaj auszuhandeln, denn mit der Ausdehnung des römischen Reiches und der Errichtung des nördlichen und später östlichen Limes sowie dem teilweise verhängten Reiseverbot wurde das Nomadisieren der Skandaj immer stärker eingeschränkt.

Das Konzept der Staatsmacht ist nicht in der Nienetwiler Gesellschaft verankert. Als nomadisierendes Volk gab es keinerlei Notwendigkeit für hierarchische Gesellschaftsstrukturen. Im Gegenteil, der Aufbau jedwelcher Machtstruktur, sei es die von Häuptlingen oder anderem, war nie gut gegangen. Im Gegensatz zu nomadischen Gruppen, die stets beisammenblieben und quasi als Grossfamilie oder fahrende Gemeinde umherzogen, trennten sich die Skandaj immer wieder. Einzelne Individuen oder kleinere oder grössere Gruppen spalteten sich temporär oder auf Dauer von einer Hauptgruppe, die zwischen zwanzig und vierzig Personen betrug, ab.
Wichtiges Wissen musste also in der gesamten Gesellschaft verteilt sein, und die grösseren Gruppen achteten sehr darauf, dass Neuankömmlinge nicht nur schnell mit dem Wissen ihrer Gruppe vertraut gemacht wurden, sondern ebenso schnell ihr Wissen an die Gruppe weitergaben. Wissen auf wenige oder gar Einzelne zu verteilen, kam für die Skandaj nie infrage, da das Risiko, dass diese Person sterben und ihr Wissen mitnehmen würde, viel zu gross war.

Dass nun eine einzige Staatsmacht einen so grossen Teil ihres Lebensraums beherrschte, zwang die Skandaj dazu, Strategien zu entwickeln, die es ihnen erlaubte, ihren Lebens- und Gesellschaftsstil im römischen Reich möglichst unbehelligt weiterzuführen. Hier kam unter anderem die Diplomatie ins Spiel.

Das Haus in Pompeji diente den Skandaj also nicht nur als Herberge, sondern – und das war wohl der wichtigere Teil – als Ort des Austauschs und der Diplomatie. Die im «po wai te nuk» geschilderte Begegnung mit Plinius dem Älteren hat sich kurz vor der Zerstörung Pompejis zugetragen. Und nuk bittet Plinius nicht nur, in seinen Geschichten nicht von den Skandaj zu schreiben, sondern warnt ihn auch vor einem Ausbruch des Vesuvs.

In Strophe 553 heisst es:
Nur wer einen Namen trägt
Nur wer eine Familie hat
Nur wer ein Haus besitzt
Nur wer Land besitzt
Spürt die Hand Roms

In 554:
Nenne keine Namen
Und nenne nicht unser Volk
Was wir einst vereinbarten
Gelte durch die (Zeit?)
Wir aber geben dir Wissen

In 557:
Deine Nachrichten werde ich
Behütet am Bein
Bis weit in den Norden
Zu Taillo tragen
Auf dass er verstehe

Und in 559:
Nun aber weiser Mann
Werden wir weiter wandern
Das Haus und alle Dinge geben wir
Der Macht des wütenden Vulkans
Wir aber bleiben frei!

Es war und ist den Skandaj stets wichtig, dass jeder Kontakt zu Sesshaften oder anderen nomadisierenden Stämmen jeweils nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit verlief, das heisst, dass alle Beteiligten einen Nutzen davon hatten. Dies nährte sich aus der Einsicht, dass «gutes» – oder wie es im Alaju heisst: katatehe = passendes, also etwas aus einem Zusammenkommen vermehrendes – Sammeln, also gadho, stets das Ziel einer Handlung sein sollte. Dass etwas, das zwischen zwei Parteien geschah, diese beiden in ihrem Sein mehrte, ihnen mehr Handlungsmöglichkeiten, mehr Seinsmöglichkeiten gab, musste das Ziel des Sammelns sein, und so gestaltete sich auch die Diplomatie der Skandaj.

Hier kann man auf das oben erwähnte Bleitäfelchen mit der Nachricht an Atilius Crescens eingehen. Es handelt sich um die Nachricht, dass die Störche im Winter an den See bei Tacape (heute Gabes in Tunesien, der See existiert heute nicht mehr; die Senke wird Chott el-Jérid genannt) fliegen. Eine Information, die sicherlich für Plinius bestimmt war und ihm gewiss gefallen hat. Welche «Gegenleistung» die Skandaj für diese Information bekamen, ist nicht bekannt. Das Lied «po wai te nuk» könnte allerdings darauf hindeuten, dass sie weiterhin in seinen Schriften unerwähnt bleiben wollten.

Nebst der «Maxime» der Gegenseitigkeit war und ist noch heute der Begriff <span class=“notranslate“>inelasu</span> = ihn/sie bei sich belassend, wichtig. Er könnte vereinfacht mit Nichteinmischung übersetzt werden. Die Nichteinmischung meint, dass man sich nicht in die Angelegenheiten von anderen einmischt, wenn dies nicht im Sinne eines medh (Versammlung) gewünscht ist. Ebenso wie die Skandaj sich nicht in fremde Angelegenheiten mischten, wollten sie auch nicht, dass man sich in die ihren einmischte. Dazu gehörte vor allem, dass man erst gar nicht wusste, dass es sie gab bzw. das Wissen darum nicht weitergab.

Dass sich einzelne Skandaj immer wieder zum Beispiel als Griechen oder Angehörige anderer Völker ausgaben, passt dazu sehr gut.

In diesem Sinn geben die in Pompeji gefundenen Objekte einen kleinen Einblick in das Verständnis von Macht in der Nienetwiler Kultur. Eine im Austausch mit anderen Kulturen gefährliche Gratwanderung, die wohl nur deshalb gelang, weil man sich der Macht, also des Sinn Mehrenden im Sammeln, bewusst war und das eigene Handeln stets ethisch hinterfragte.
Dies muss offensichtlich bei den jeweiligen «Partnern» aus anderen Kulturkreisen auf Respekt gestossen sein, denn es ist nicht anders zu erklären, wieso sich die Nienetwiler Kultur über all die Jahrtausende und in all den seit Uruk gegründeten Reichen sonst hätte behaupten können.