von David J. Krieger
Macht ist die Kraft des Sammelns. Wie wir aus verschiedenen archäologischen Funden, die inzwischen im Museum Nienetwil gelagert und zum Teil dort präsentiert werden, wissen, ist die wesentliche Kulturtätigkeit in der Nienetwiler Kultur das Sammeln. Unter Sammeln ist aber nicht bloss eine menschliche Tätigkeit in dem Sinn zu verstehen, dass alle anderen Wesen der Welt – also die Pflanzen, die Tiere, die Dinge usw. – dem Menschen ausgeliefert wären. Ganz im Gegenteil! Am Sammeln sind alle Wesen gleichberechtigt, oder wie es heisst: «symmetrisch», beteiligt. Aus dem Sammeln entsteht die Welt, in der die Menschen und, nach dem Erscheinen des Menschen auf der Erde, alle anderen Wesen leben. Macht ist also die Kraft, welche die Welt des Sinnes, der Kultur oder dessen, was in der Nienetwiler Kultur das «Kollektive» genannt wird, ermöglicht und kreiert.
Auch wenn Macht die Kraft des Sammelns ist, bedeutet dies also nicht – wie üblicherweise Macht verstanden wird, also als Herrschaft und Unterordnung –, dass Macht und Freiheit inkompatibel wären. Macht ist eine Kraft, die auf der Basis von Freiheit wirkt und ohne Freiheit, zum Beispiel in der deterministischen Welt der reinen Materie, welche die Physik und Chemie untersucht, gar nicht wirken kann. Dennoch kann kein Wesen der Macht entkommen. Es gibt kein Recht darauf, «in Ruhe gelassen» zu werden, wohl aber ein Recht darauf, an der Versammlung, das heisst am Kollektiven, teilzunehmen. Weil Macht Freiheit voraussetzt bzw. mit sich bringt, kann das Sammeln «gut» oder «schlecht» sein. Wenn Macht gut sammelt, gibt es keine Herrschaft im Sinn der Hierarchie oder der vollständigen Unterordnung von einem Wesen unter ein anderes, und deswegen auch keine «Souveränität» – ein Wort, das praktisch gleichbedeutend mit Politik ist. Es gibt stattdessen Verhandlungen, Kompromisse, Kooperationen, Arrangements, Verschiebungen, Neukonfigurationen, aber keine Herrschaft. Wenn wir uns die Geschichte der Politik in Erinnerung rufen, dann ist es klar, dass zumeist schlecht gesammelt wurde. Das gute Sammeln braucht viel Zeit und ist nie abgeschlossen. Will man aber identifizierbare Territorien und klare Grenzen, will man wissen, wer dazugehört und wer nicht – was die Politik, die immer mit dem Schema Freund/Feind operiert hat, verlangt –, dann greift man zu den Waffen. Es wird erobert statt verhandelt. Statt Kollektive entstehen Hierarchien. Das ist es, was die Geschichte uns lehrt. Das ist das, was der Politik einen schlechten Ruf gegeben hat.
Für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler ist die Politik nichts anderes als schlechtes Sammeln, und die Gesellschaften und Staaten, die aufgrund von Politik entstehen und im Lauf der Geschichte entstanden sind, sind schlechte Formen von Kollektiven. Solche politischen Gebilde – wir sprechen heute vor allem von Nationalstaaten –, kümmern sich, sind sie einmal entstanden, nur noch um sich selbst. Sie sind nur daran interessiert, sich selbst durch die Errichtung von Hierarchien, Eroberungen, Machtkämpfe usw. zu glorifizieren und zu feiern. Die Ausläufer dieses Verhaltens erleben wir heute nicht nur in den internationalen Kriegen von allen gegen alle, sondern in dem überall wieder aufkommenden Populismus.
Doch das gute Sammeln ist nicht verschwunden, sondern arbeitet weiter innerhalb und ausserhalb der Hierarchien. Jetzt, da sich die Hierarchien zunehmend als ineffizient und destruktiv – nicht nur einander gegenüber, sondern auch der Erde gegenüber – herausstellen, gewinnen das Gedankengut der Nienetwiler und Nienetwilerinnen und ihre Praktiken an Bedeutung und Überzeugungskraft. Die lang verschüttete Nienetwiler Kultur kommt wieder zum Vorschein und wird für die Zukunft der Menschheit von grösserer Bedeutung als je zuvor.
Aus diesem Grund haben wir, die Herausgeber der «Cahiers de recherches de Nienetwil», entschieden, diese dritte Nummer dem Thema Macht zu widmen.
Wir sind uns bewusst, dass wir damit ein «heisses Eisen» in die Hand nehmen. Macht ist überall und immer empfindlich für Kritik. Wer in einer politisch geordneten Gesellschaft die herrschende Macht infrage stellt, geht ein gewisses Risiko ein. Das Risiko besteht darin, mit den üblichen «Kritikern», die automatisch zu einer «Opposition» gemacht werden, in einen Topf geworfen und damit in das System integriert zu werden. Das System der Macht hat lange gelernt, wie mit der Opposition umzugehen ist. Es kann keine Opposition geben, die nicht selbst Macht erlangen will und somit das System an sich unterstützt und fördert. Ein Grund, warum die heutigen Parteien und Regierungen aller Schattierungen nichts fürchten, ist, dass ihr Spiel das einzige ist. Es gibt keine Alternative. Das meinen sie jedenfalls. Lange Zeit war der einzige Ort, an dem alternative Formen des Zusammenlebens existieren konnten, kein «Ort», sondern die Utopie. Nun hat die Nienetwiler Forschung inzwischen eine Utopie entdeckt, die nicht nirgends ist, sondern überall unter uns und um uns herum. Dies ist, so meinen wir, ein Zeichen der Hoffnung. Wir müssen nicht die ganze Gesellschaft verneinen und unsere Hoffnungen und Visionen ins Nirgends platzieren, um eine andere Zukunft zu suchen, sondern nur sorgfältig und genau unter unsere eigenen Füsse schauen: Der «Boden», auf dem wir gehen, ist der Boden, welchen die Nienetwiler Kultur schon vor Tausenden von Jahren vorbereitet hat und im Schatten der Politik lebendig hielt, bis sie heute wieder im vollen Licht des Tages erscheinen kann.
Alle Beiträge in dieser Nummer der CRN widmen sich dieser Aufgabe und dieser Hoffnung.
- Inhaltsverzeichnis CRN 3-2021-2
- Editorial CRN 3-2021-2
- Vorwort CRN 3-2021-2
- Eine kurze Geschichte der Macht
- Das Tagebuch des Jesuiten S.P.
- Untersuchungsbericht
- Über die Natur der Macht
- Wie odo und teneak das Rechnen erfanden
- Die Alajuwörter tu katatehe und home
- Die Funde in den Häusern 6 und 7 in Pompeji
- The Alaju Settlement - Teil 3
- Ausblick auf CRN 4-2022-1
- Impressum und Autoren
- Editorial CRN 3-2021-2