The Alaju Settlement – Teil 1

1965 sandte die Ehefrau von Amot Nussquammer sen., Miribal Nussquammer-Ciséan, ein Buchmanuskript an d’Aciel Arbogast I. mit der Bitte, er möge ihr helfen, es zu veröffentlichen. Leider ist dies nie geschehen. Die Autobiografie wirft nicht nur ein Licht auf das spannende Leben dieser ausserordentlichen Frau, es beleuchtet auch die Nienetwiler-Forschung und bringt uns ebenfalls näher an die Skandaj im Umfeld von d’Aciel Arbogast I., der ja bekanntlich selber ein Skandaj war.

 

THE ALAJU SETTLEMENT

Von Miribal Ciséan

Den anderen Menschen gewidmet. Miribal Ciséan, 1967

Erster Weltkrieg

Es war die erste Woche im August 1915, und hier will ich meine Geschichte beginnen.
Eben erst hatte ich meine Pflichtschuljahre abgeschlossen. Mein Bruder Guillaume war drei Monate zuvor, am 10. Mai 1915, vor Lens in der Schlacht gefallen und ganz Frankreich war ob des Krieges in heller Aufregung.

Mein Vater rief mich in das kleine Wohnzimmer, strich seine Jacke glatt und baute sich mit der liebevollen Ausstrahlung eines dieser neuen Panzergeräte vor mir auf. Ich merkte es sofort, er wollte mich nicht mehr im Haus haben. Wie sehr meine Mutter auch flehte, dass ich zu den Besten der Klasse gehört hätte und weiter zur Schule gehen sollte, er winkte ab und ich musste gehen. Mädchen, die in Paris eine Arbeit fanden, wie schlecht sie auch bezahlt waren, konnten trotzdem Geld nach Hause schicken. Geld, das jetzt, da alle Väter und Söhne an der Front hingemetzelt wurden, mehr denn je fehlte. Mein Vater war nur deshalb nicht eingezogen worden, weil er ein steifes Bein hatte.
Also verkaufte er mich an Monsieur Balfour. «Ein gütiger und anständiger Herr ist der Monsieur Balfour. Du wirst als Dienstmädchen bei ihm arbeiten. Sei immer anständig und fleissig, dann wird es dir an nichts mangeln.»

Das waren seine Worte. Oh Papa! Wie falsch du doch lagst! Balfour war nicht gütig und er war vor allem nicht anständig. Doch mir blieb keine Wahl. Meine Mutter setzte sich mit mir in eine Kutsche und wir fuhren los. In Paris angekommen, brach sie fast zusammen. Sie weinte und weinte und schüttelte sich vor Weinkrämpfen. Die ganze Trauer über den verlorenen Sohn und die jetzt weggeschickte Tochter brachen in ihr durch. So war es an mir, meine Mutter zu trösten, als wir vor dem grossen Haus ankamen.

Nachdem man meiner Mutter einen Umschlag in die Hand gedrückt und sie verabschiedet hatte, wies mich Mme Balfours Dienstmädchen in meine Pflichten ein. Nachttöpfe leeren, putzen, Botengänge. Beim Bettenmachen helfen und solches mehr würde nun zu meiner Arbeit gehören.

Man gab mir eine klitzekleine Kammer unter dem Dach, gerade gross genug für ein kleines Bett und eine Truhe für die Kleidung. Die Uniform, die ich zu tragen hatte, hing an einem Kleiderhaken an der Wand neben der Tür.

In der Küche durfte ich etwas essen und musste dann bei allerlei Dingen helfen, bis es später Abend war. So ging das eine Woche lang, und dann fing mich Monsieur Balfour eines Abends im Flur ab, als ich zu Bett gehen wollte. Balfour war ein hagerer, langer Kerl. Seine kleinen Knopfaugen lagen dicht und tief neben der knochigen grossen Nase. Er duftete schwer nach irgendetwas, das wohl in Mode war, denn Balfours taten nichts, was nicht in Mode war. Mme und ihre Freundinnen konnten einen ganzen Tag in den Galeries Lafayette verbringen und einkaufen, was man eben anziehen musste in der Stadt. Den ganzen Tag über kamen Boten und brachten Kleidung und anderes, was die Madame eingekauft hatte.

Und ebenso modisch war Monsieur eingekleidet, als er nun vor mir stand und mich anwies, in eines der Zimmer zu kommen, in denen wir die weniger bedeutenden Gäste unterbrachten.
Ich merkte gleich, was er wollte. Sophie, eines der Dienstmädchen, hatte mich vorgewarnt. Doch ich war nicht Sophie, die kleine, zierliche Sophie. Mit einem empörten Aufschrei verliess ich das Zimmer und rannte in meine Kammer hoch. Unerreichbar für den Herrn, denn das war für ihn Tabuzone. Ich hörte sein trockenes Lachen die Treppe herauf hinter mir her scharren.
Als er dasselbe einige Tage später wieder versuchte, packte er mich mit seinen grossen, knochigen Händen. «Du kleines Zicklein, du kleines Zicklein.» Doch der Dummkopf war nicht vorbereitet. Während er sich von seinem Jackett zu befreien versuchte, zerrte ich mich unsanft los, riss die Tür auf und rannte schreiend nach unten und noch immer schreiend zur Haustüre hinaus auf die Strasse.

Ich weiss nicht mehr, wie lange ich lief. Nur, dass ich an einem langen Zug Soldaten vorbeikam. Alle waren sie verletzt, hatten Binden am ganzen Körper und schoben Karren mit Männern, die noch fürchterlicher zugerichtet waren als sie. Einer der schiebenden Männer knickte wenige Meter vor mir ein und ich half ihm, aufzustehen. Fast eine Stunde lang blieb ich bei den Soldaten. Gab diesem Wasser oder half einem anderen, vom Karren heruntergefallenes Gepäck aufzulesen.
Und dann kamen wir bei einem provisorischen Krankenhaus an, das ganz und gar mit verwundeten Soldaten gefüllt war.

Und dort blieb ich. Zwei Tage lang half ich, wo ich konnte, schlief auf einem Sack in einer Materialkammer und ass, was ich kriegen konnte, bevor mich Schwester Annemarie ansprach. «Wer bist du denn?»

Ich erzählte ihr alles und bot an, weiter zu helfen. Sie willigten ein und ich bekam einen weissen Kittel, eine Liege zum Schlafen im Hospiz Sainte mère d’espérance und täglich drei Mahlzeiten.

Und ich musste auch nicht mehr ins Lazarett, sondern blieb im Hospiz bei den sterbenden Männern. Zerschossene und zerschmetterte Soldaten waren das. Knochige, blutende Überreste eines sinnlosen Krieges. Im Schlamm und ihrem eigenen Blut liegend aufgehoben und ins Hospiz gebracht, um zu sterben. Ich sei ein schöner und hoffnungsvoller Anblick für die Männer. Es mache das Sterben leichter in meiner Gesellschaft, meinte die Oberschwester einmal.
Ich konnte es nicht glauben, denn sterben ist sterben, dachte ich. Wie konnte ein junges Ding wie ich da hilfreich sein?

Im dritten Monat nach meiner Ankunft begann ich Tagebuch zu schreiben. Das tue ich heute noch, und damals wie heute hilft es mir nicht nur die Erinnerung zu bewahren, sondern mir im Moment des Schreibens auch all meiner Erlebnisse und Gefühle gewahr zu werden.

Ich werde aus meinem Tagebuch zitieren und bitte um Entschuldigung, wenn ich nicht eins zu eins übertrage. Aber das Gekritzel, gerade der ersten Jahre, ist nicht zu ertragen.

Aus meinem Tagebuch, 6. April 1916: Heute kamen neue Männer. Aus Verdun, woher auch sonst. Und nur Offiziere. Wo waren die Soldaten?

Einer, sein Name ist Joseph und er hat beide Beine verloren und überlebt, bat mich am Abend zu sich. «Miribal, ich bedanke mich für deine Hilfe. Nimm meine Tasche, sie liegt unter dem Bett.» Ich holte die Tasche hervor und darin waren seine Habseligkeiten. Ich solle ihm das Bild seiner Frau hervorsuchen, was ich tat. Auch einen Anhänger aus Silber mit dem heiligen Christophorus musste ich herausnehmen. Er wollte mir den Anhänger schenken, doch ich lehnte ab. Er drang so lange auf mich ein, bis ich schliesslich nachgab. «Weisst du, ich habe schreckliche Dinge gesehen und ebenso Schreckliches getan. Was sind wir bloss für Tiere, Miribal. Was sind wir für Tiere!» Er sprach dann davon, wie es ist, einen Feind zu töten – mit dem Bajonett! Der habe und habe nicht sterben wollen, und da habe er ihm aus reiner Gnade die Kehle durchgeschnitten und sich gewünscht, er könne ebenfalls sterben. Als er eingeschlafen war, wollte ich den Anhänger der Oberschwester geben, aber sie sagte, ich solle ihn behalten, er passe gut zu mir.

1. September 1916: Lieutenant Caspar Serra wurde heute ins Hospiz gebracht. Er hat mehr als zehn Einschusslöcher von Gewehrkugeln in seinem Körper und lebt immer noch! Caspar ist ein grosser, kräftiger Bulle von einem Mann. Er ist Korse und genauso sieht er auch aus. Er lag ganz stolz auf seinem Bett und nannte mich Mademoiselle, als ich ans Bett trat. «Wusstest du, dass euer Kaiser aus demselben Dorf stammte wie ich? Es ist wahr, mein Urgrossvater hat seine Familie gekannt.» Mir fiel tatsächlich nichts Dümmeres ein als zu fragen: «Werden Sie auch Kaiser?» Er lachte und hustete Blut. Ich dummes Schaf! Aber er nahm es ohne zu zucken hin. Eine Stunde später ging ich wieder an seinem Bett vorbei. Jemand hatte ihm bereits das Leinentuch über das Gesicht gezogen. Ich halte das nicht mehr lange aus, dieses Sterben!

2. Februar 1918: Frederic Catilleaux hat mir heute Avancen gemacht. Natürlich weiss der arme Mann, dass er sterben muss. Eine Leber ist ihm zerschossen. Aber ich ging seinetwegen auf das Spiel ein, aber nicht, ohne die Distanz zu wahren. Er ist ein guter Kerl, und wenn er nicht zum Sterben verurteilt wäre, wenn er tatsächlich überleben würde, wer weiss? Aber diese Gedanken sind verboten. Verboten!

6. Februar 1918: Frederics Mutter kam ihn heute besuchen. Was für eine Madame! Die Haare allein mussten die gesamte Bourgeoisie empören. Sie ist eine unglaublich schöne Frau. Nie in meinem Leben habe ich so eine schöne Frau gesehen. Sie weinte, als sie Frederic sah, und sie heulte, als sie mit dem Arzt sprach. Und dann bedankte sie sich bei mir für meine Hilfe! Ich wollte, ich könnte mehr tun. Ich will es so sehr und weiss doch, dass ich es nicht kann. Das Herz ist mir schwer. So schwer!

9. Februar 1918: Frederic ist tot!

10. Februar 1918: Ein Bote kam, um Frederics Sachen abzuholen. Er hatte einen Brief für mich dabei. Mme Scheherazade bedankte sich vollen Herzens für meine Hilfe an ihrem Sohn Frederic und bat mich, sie zu besuchen.

14. Februar 1918: Ich war heute im Scheherazade bei Frederics Mutter, die hier ebenso genannt wird. Eigentlich heisst sie Ophelia Catilleaux. Es war ein Bordell! Aber nicht eine billige Absteige, sondern ein Palast mit so vielen schönen Mädchen, dass ich mich genierte. Madame bot mir an, für sie zu arbeiten. Nicht als Mädchen, sondern nur für sie. Ich dürfe aber nur kommen, wenn ich nie etwas mit einem der Männer anfangen würde.

Ich habe ohne zu überlegen zugestimmt.

 

Scheherazade

Wo soll ich nur anfangen. Das Scheherazade. Das Scheherazade.

Das Scheherazade war kein Bordell. Mitten in Paris in der Nähe der Eglise Saint-Marie gelegen, bot das fünfstöckige Haus Scheherazade den Besucherinnen (ja, auch das gab es) Lustbarkeiten aller Art. Keine der Frauen, die dort verkehrten, war zu irgendetwas gezwungen. Es gab keine Zuhälter wie in den heutigen Bordellen Chicagos. Die Frauen waren frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. Sie bekamen nicht einfach 30 Centimes für eine Dienstbarkeit. Sie bekamen Perlen, grosse Geschenke und Geldbeträge. Mme Scheherazade erhielt für die Vermietung der Räumlichkeiten ebenfalls Geld und allerhand Geschenke – von den Damen ebenso wie von deren oder ihren Verehrern. Stellt euch die ganzen Künstler vor, die schöne junge Frauen für ihre Bilder suchten. Sie alle kamen früher oder später ins Scheherazade. Zu jener Zeit waren selbst heute so berühmte Maler wie Picasso oder Toulouse-Lautrec da. Picasso ist aber nicht mehr gekommen, seit er diese «russische Ballerina» geehelicht habe, was schade sei, denn «der sei ein wahrer Lebemann gewesen». Aber dafür hatten wir Louis Aragon, den Poeten, und Dutzende anderer Künstler und Politiker, die sich ein Stelldichein mit ihrer Mätresse geben oder sich einfach zum Diskutieren oder Trinken treffen wollten.

Aber von vorne.

Ich traf am Mittwoch, dem 4. März 1918 im Scheherazade ein. In der Linken hielt ich meinen Beutel, der alles enthielt, was ich besass. Wenige Kleidungsstücke, den Christophorus-Anhänger von Joseph, mein Tagebuch, drei Bücher – ich kann mich trotz all dem Nachdenken nicht erinnern, welche es waren, und auch in meinem Tagebuch dieser Jahre steht nichts davon – sowie Kleinigkeiten der Hygiene. Mit der Rechten klopfte ich schüchtern an die kleine Pforte im Hinterhof, die für die Lieferanten gedacht war. Eine Küchenhilfe, George, wie ich später erfuhr, öffnete mir die Tür und blaffte mich an, was ich denn wolle. Sie würden niemanden suchen und ich solle mich vom Acker machen. Verunsichert wollte ich mich umdrehen, als von drinnen jemand rief, ich würde erwartet. Ich durchquerte eine rauchige und düstere Küche und dann die Räume hinter dem Restaurant. Madame erwarte mich oben, sagte man mir, und ein junges Mädchen begleitete mich eine Treppe hinauf zu einem Salon. Ich wähnte mich in Versailles, und hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte sicher Marie-Antoinette in einem der Diwane sitzen sehen. Aber dort, umringt von vier ausstaffierten Dandys, wie man heute wohl sagen würde, sass die Grand Dame, Madame Scheherazade, in einem so wundervoll schönen, aber auch unglaublich aufreizenden Kleid, dass ich vor Scham rot anlief und wegsah. Und sie war so schön. Dabei, und das darf man nie vergessen, war sie damals schon achtundfünfzig Jahre alt, also kein junges Küken, das sich da von den Herren den Hof machen liess.

«Kommen Sie hierher, Miribal. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Diese Herren wissen sich zu benehmen, nicht wahr, Xavier?», fragte sie einen der Männer neckisch und zupfte ihn verspielt an seinem langen Schnurrbart.

Die vier lachten und schäkerten mit ihr und ich getraute mich nicht, näherzutreten. Da stand sie auf, winkte den Herren zu und fasste mich unter dem Arm. «Komm, Mädchen, jetzt, wo ich keinen Sohn mehr habe, will ich dich wie meine Tochter sehen. Claudite!», rief sie mit erstaunlich lauter Stimme, «bring Miribal auf ihr Zimmer und zeige ihr den Schrank mit den Kleidern. Badet sie, frisiert sie, macht sie zur Prinzessin der Scheherazade!» Und mit einer tänzerischen Drehung wandte sie sich um und schritt in den Salon zurück.

Zwei Stunden später, ich war todmüde, gebadet und frisiert – sie hatten extra einen Friseur kommen lassen! – und mit Stoffen bekleidet, wie ich sie noch nie gesehen habe, liess ich mich rücklings auf das Canapé in meinem Zimmer sinken und stöhnte vor Müdigkeit und Wonne.

Ich arbeitete mich gut ein und die Madame war sehr nett zu mir. Fast alle waren sehr nett zu mir. Viele wunderten sich, dass ich für die Männer tabu war, aber das war mir egal. Ich hatte da meine Ahnung, und die wurde mir von Madame auch bestätigte. Sie wollte nicht, dass ich was mit den Männern hatte, weil sie mich einerseits tatsächlich beschützen wollte, und anderseits hatte das den Vorteil, dass natürlich das Verbotene umso verlockender war. Nun, die anderen Damen dankten es mir, denn nicht wenige Herren kamen wegen mir und nahmen dann mit ihnen «vorlieb».

Nun darf man aber nicht denken, dass im Scheherazade nur um Mädchen gefreit und mit ihnen «herumgemacht» wurde, wie man heute sagt. Ganz und gar nicht! Es war ein Salon, in dem Politiker und Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und Literaten verkehrten und oft grosse Diskussionen um dies oder jenes hatten.

Leider verstand ich oft nicht, worum es ging, und sagte das auch ganz offen. Oh, da kümmerten sich die Herren um mich! Da wurde mir sogar einmal die Woche ein Privatlehrer geschickt. Man stelle sich das vor! Ich bekam Englischunterricht und auch etwas Latein. Geschichte wurde mir vermittelt und ab und zu nahm mich Jacques Rigaut beiseite, trug mir ein Gedicht vor und hielt mich an, ihm die kommende Woche ebenfalls eines vorzutragen. Er war einer dieser Dichter, die dem Dadaismus nahestanden, und so sollte ich einmal ein Gedicht über die Grande Dame verfassen. Was für ein Ansinnen! Ich fand das Gedicht in meinem Tagebuch.

8. Oktober 1919: «Herr Rigaut trug mir auf, ein Gedicht über meine Ziehmutter, wie ich sie schon nenne, zu verfassen. Im Stile der Dadaisten. Als ob ich das könnte! Er schäkerte mit mir und nannte mich Prinzessin Scheherazade. Aber das machte es auch nicht besser.

Flatter das Kleid, wusch und wusch
Genommen das leid, kling und ping
Scheherazade, huh huh und ohhh
Wallend, überfallend, krallend, oh
Nymphe und engel

Wusch bausch rausch
Kussi kussi schmatzi
Ga ga gaga dada wusch!

Flotte saloppe schwingende Elfe
Nymphe schwups schwupss!
Strackskommando liebelei
Aphrodite zadong!
Schmatz Schampus Hummer Gelage
Ärschlein, Busen, schrapps!
Königin nachtgelehrte Mutter
Sanfter wind kusch!

Für mehr hatte ich keine Zeit und, ich will ehrlich sein, das war ganz schön anstrengend. Zum Gedichteschreiben bin ich ungeeignet. Rigaut war aber gnädig, er nickte mit dem Kopf und wackelte, um mich aufzuheitern, mit den Ohren.
«Geh aus dir raus, Prinzessin Scheherazade. Vergiss einfach, was du gelernt hast, und halte dir deinen Kopf für deine Gedanken frei!»

Wir wiederholten das Spiel noch ab und zu und manchmal bekam ich sogar etwas einigermassen Brauchbares hin.

Ein ausserordentlich interessanter Mann war Luc Benoist. Er war Kunsthistoriker und schrieb viel über Kunst und Symbolismus.

Aus meinem Tagebuch, 19. Februar 1919: «Monsieur Wildenstein ist heute gekommen. Mit ihm dabei Picasso, Monsieur Gris und ein sehr lustiger Geselle, den sie alle nur Aciel nannten. Ophelia sagte mir, dass er Forscher und Künstler sei und eigentlich d’Aciel Arbogast heisse. Auf jeden Fall wusste der zu leben. Er lud die drei anderen zu Champagner ein, spendierte Cigarren, und als dann noch weitere Leute dazustiessen, wurde ein richtiges Fest daraus. Picasso sang sogar spanische Lieder und Arbogast trug fremdländische Gedichte in der Originalsprache vor. Niemand verstand auch nur ein Wort, aber alle lachten und klatschten und Marguerite Alibert, eine der edelsten Prostituierten in ganz Paris, kam dazu und äffte ihn nach. Wir kreischten vor Lachen und konnten kaum noch aufhören.»

Aus meinem Tagebuch, 4. März 1920: «Monsieur Benoist war heute mit seinen Freunden im grünen Salon. Sie baten mich zu sich, und das wollte ich nicht verwehren. Es sind sehr seltsame Leute, sie redeten von Sufis und Ägyptern, von der Symbolik der Pyramiden und vom Untergang der Symbolik in der Kunst.
Auch hatte er sehr seltsame Theorien über die Religionen und den Glauben. Ich war sehr verwirrt und sie schienen es mir anzusehen. Einer, ich weiss den Namen nicht mehr, sagte mir, ich solle nicht verwirrt sein, denn das seien alles nur Spielereien. Da fingen sie alle an zu streiten und zu keifen, bis Ophelia kam und sie zur Ruhe ermahnte.»

So ging das tagein, tagaus. Manchmal kam Lily und spielte auf der Harfe und Gina Manès sang dazu oder spielte uns etwas aus einem ihrer Stücke oder Filme vor. Mit besonderer Dankbarkeit denke ich auch noch an Wildenstein zurück. Was für ein Mann! Er war Kunsthändler und kam ab und zu mit seinen Künstlerfreunden.

Herr Arbogast, so nannten wir ihn damals, kam immer wieder vorbei. Manchmal zum Feiern, oft aber sass er im Blauen Salon mit den Wissenschaftlern, meist Historikern oder Archäologen, zusammen. Charles Dubois zum Beispiel, von dem ich unendlich viel über das römische Reich gelernt habe, sass ab und zu mit Arbogast zusammen.

Ich kann mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen, als Arbogast kam und darum bat, mit seinen Freunden den Salon Royale benutzen zu dürfen. Der Name war bei diesem Salon eher als Scherz gedacht, denn es handelte sich um einen grossen Raum im Keller, in dem früher Wein und Ähnliches gelagert wurde. Es sah dort aus wie in einer Kerkerzelle im Tower von London, und irgendwann hat man angefangen, ihn für konspirative Sitzungen oder solche, die den Anschein dazu geben sollten, zu nutzen.
Bei solchen Zusammenkünften sollte nicht gestört werden, und wenn, dann nur von einer Vertrauensperson. An jenem Abend war ich das.

Porträt der Miribal Ciséan von d’Aciel Arbogast I, 1938. Öl auf Leinwand, 60x40cm. Signatur AA38

Ich geleitete gegen neun Uhr abends ein gutes Dutzend Männer und Frauen hinunter und brachte ihnen auch das bestellte Essen und die Getränke. Von dem Gesprochenen verstand ich kein Wort. Seit ich im Scheherazade war, habe ich Englisch und Deutsch gelernt. Sogar einige Brocken Russisch, Arabisch und Latein. Das Interessante war, dass ich aus ihrem Gespräch einzelne Worte zu erkennen glaubte, doch die Sätze verstand ich nicht.
Im Versuch, etwas zu verstehen, war ich unhöflicherweise auf dem Weg stehen geblieben und hatte leicht den Kopf geneigt. Stand einfach da und lauschte. Ich erschrak fast zu Tode, als mir Arbogast von hinten auf die Schulter klopfte. «Ich werde es dir erklären, Miribal. Ein anderes Mal.» Und damit war ich meiner Dienste entlassen.

Es verging fast ein Monat, bis er wieder im Scheherazade auftauchte. Als er mich sah, lächelte er mich an und winkte mir, ich solle mich zu ihm in den grünen Salon setzen. Er war recht früh gekommen und der Salon war noch leer, als wir eintraten. Nachdem wir uns hingesetzt hatten, fing er an zu erzählen.

Ich versuche, das Gespräch anhand meiner Erinnerungen und Tagebucheinträge zu rekonstruieren.

«Miribal, weisst du, wo die Schweiz liegt?»
«Ja, das weiss ich.»
«Weisst du, von dort komme ich her, da bin ich aufgewachsen. In der Schweiz ist die Heimat der Nienetwiler.» (Er sagte das Wort auf Deutsch, aber ich konnte nichts damit anfangen.) «Nienetwiler kommen aus der Schweiz und leben manchmal auch dort, aber sie sind eine eigene Kultur, eine ganz andere Art Mensch, als du sie kennst.»
«Deshalb die andere Sprache?»
«Deshalb die andere Sprache. Sie ist teilweise uralt, älter als das Römische Reich, von dem dir Charles erzählt hat. Vieles andere ist aus anderen Sprachen entliehen, uralten Sprachen wie Aramäisch oder Altgriechisch, Latein oder Keltisch. Andere sind jungen Sprachen wie dem Französischen, dem Italienischen oder dem Deutschen entliehen. So verständigen wir uns, denn wir sind in der ganzen Welt verstreut, und so können wir uns dennoch verstehen.»
«Fast wie die Juden also?»
«Ja, fast. Aber die haben ihre eigene Sprache. Unsere dagegen ist sozusagen die Mutter der Sprachen und eine Leihgabe aus der Zeit.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Nun, wir sind Sammler, verstehst du? Wir sammeln Wissen und Fertigkeiten. Wir sammeln alles, was uns hilft, weiterzubestehen. Dazu gehört auch Sprache. Aber wir sind auch ein sehr verspieltes Volk, und wenn jemand etwas sieht und ihm dafür ein guter Namen einfällt, dann nennt er es eben so. Und wenn er das Wort bei einem Gespräch benutzt, erklärt er oder sie es, und wenn das gefällt, dann fliesst das Wort in die Sprache ein. Und manchmal geht ein Wort wieder verloren und manchmal bleibt es für Jahrhunderte oder Jahrtausende in unserer Sprache.»
«Hast du ein Beispiel?»
«Ghlotz. Ghlotz ist so ein Wort. Jemand stolperte vor langer Zeit über ein grosses Holzstück, das am Boden lag. In der Schweiz nennt man das einen Klotz. Da dachte er, dass er das Wort Klotz, mit glotzen, also schauen, verbinden könnte, um so ein neues Wort zu kreieren. Die Bedeutung des Wortes Ghlotz ist nun, dass man sich vor Dingen in Acht nehmen sollte, über die man stolpern könnte. Das muss nicht etwas sein, das auf dem Boden liegt, es kann auch eine Situation sein. Es bedeutet aber auch das Objekt oder die Situation selber. Und der Ausspruch ‹den jal ghlotz› bedeutet in etwa, ‹das wird eine heikle Angelegenheit werden›. Verstehst du das?»
«Ja, das ist richtig ouvertut!»
«Es freut mich, wenn dir alles aufgeht. Du bist wirklich eine pfiffige junge Dame, Miribal. Fast hätte ich den Eindruck, dass auch in dir ein wenig Nienetwiler Blut fliesst.»
Ich gab Herrn Arbogast einen dicken Schmatzer auf die schmalen Wangen, denn ich war einfach glücklich. So vieles, was ich noch nicht wusste und entdecken konnte!

Wir sprachen noch oft miteinander, und ab und zu durfte ich dabei sein, wenn er einen Nienetwiler traf und mit ihm sprach. Der lächelte mich dann meist freundlich an und dann sprachen sie, als ob ich nicht da wäre. Doch mit der Zeit, so schien es mir, kam ich ganz langsam dahinter und konnte mir ab und zu den Sinn eines Satzes erschliessen. Dann plapperte ich ganz aufgeregt dazwischen wie ein kleines Mädchen und fragte, ob ich das richtig verstanden hätte. Und wenn ich einigermassen richtig lag, dann lächelte mir Arbogast zu und bat mich, ihnen noch etwas zu trinken zu holen.

 

Sprache

Wie schön und aufregend die Zeit im Scheherazade auch war, so einsam fühlte ich mich doch auch. Ein Mädchen von achtzehn Jahren war ich inzwischen und natürlich hatte ich auch Jungs im Kopf. Mehr aber als die jungen Männer interessierte mich das Wissen. Kaum ein Tag verging, an dem ich meine Gefühle der Einsamkeit nicht mit Lesen und Lernen erstickte. Gespräche mit Huren und Schauspielerinnen, Wissenschaftlern (und ganz selten Wissenschaftlerinnen) halfen mir über meine Zeit des Erwachsenwerdens, und wenn es nicht anders ging, heulte ich mich bei irgendjemandem aus. Das Jahr 1920 verging so schnell wie das Jahr danach und auch das Jahr darauf. 1923 empfing mich mit einem Monat, in dem ich krank im Bett lag. Irgendjemand, ich weiss nicht mehr wer, dachte wohl, dass er mir etwas Gutes tat und liess mir Marcel Prousts «À l’ombre des jeunes» zukommen, und irgendein anderer Besucher, der das Buch sah, meinte dann, dass er mich mit Prousts «Sodome et Gomorrhe», das in Paris seit dem Herbst angepriesen wurde, erfreuen könnte. Nicht dass ich Prousts Witz und Wortreichtum nicht gemocht hätte, aber ich war eine junge Frau von einundzwanzig Jahren! Also legte ich die Bücher beiseite und schlief. Ich schlief einen Monat lang, und als ich endlich wieder gesund und auf den Beinen war, fragte ich zuallererst nach Arbogast. Ich hatte viel nachgedacht über die Gespräche, die wir in den vergangenen drei Jahren geführt hatten. Gespräche über Politik und Archäologie, über die Geschichte und die Philosophie, und immer wieder Gespräche über die Sprache. Sie interessierte mich am meisten. Es war mir inzwischen klar, dass unser Französisch nicht immer so gewesen war, nicht immer so geklungen hatte, wie es in dieser Zeit gesprochen wurde. Ich war manchmal in der Strasse der Metzger oder Tuchhändler, um ihnen zuzuhören, wenn sie in ihrem eigenen Dialekt sprachen, der, ganz wie es mir Arbogast über die Nienetwiler erzählt hatte, durchsetzt war von fremden Wörtern aus Deutschland, Belgien, Holland, Italien, dem Bretonischen oder Occitane, Spanisch oder gar Arabisch. Ich hätte ihnen ewig zuhören können und nahm alles in mich auf, was ich hörte.
Ich wusste, dass Sprache etwas Lebendiges, ja Phantastisches war, das weit mehr zu bieten hatte als das Französisch von Proust.
Was mir Arbogast über die Entstehung der Sprachen und ihren Einfluss auf jene, die sie sprechen, erzählt hatte, liess mich nicht mehr los.
So war es kein Wunder, dass es mich nach mehr verlangte.
Ophelia sagte mir, dass er seit Längerem nicht mehr hier gewesen sei und sich, wie es hiess, in seinem Atelier verkrochen habe.
Ich bat darum, ihn besuchen zu dürfen, und als sie es mir gestattete, packte ich eine Flasche Wein, eine grosse Wurst, Weissbrot und, als besonderes Geschenk, eine Tafel feinster Schokolade ein und machte mich auf zu seinem Atelier.
Das schmale Haus befand sich, ganz «unkünstlerisch», in einer Mansarde an der Rue de Sommerard. Der Concierge liess mich hochgehen. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass mein Besuch viel Gerede im Haus zur Folge haben würde.
Schüchtern klopfte ich an seine Tür. Arbogast machte auf und schaute mich etwas erstaunt an. «Was machst du denn hier, Prinzessin?»
Der Kosename «Prinzessin» schien nun also ganz und gar und überall meinen wirklichen Namen ersetzt zu haben.
«Miribal, Monsieur Arbogast, bitte nennen Sie mich Miribal.»
«Dann nennst du mich Aciel», entgegnete er etwas unwirsch. Er schien seinen Tonfall bemerkt zu haben und sagte versöhnlich: «Was führt dich zu mir, Miribal? Du willst doch nicht etwa den noch nicht bezahlten Champagner eintreiben?»
«Aber nein … Aciel …, ich bin hier, um zu lernen. Alles über Sprachen möchte ich lernen, alles, was Sie wissen, möchte ich auch wissen!»
«Oh!» Er zog die Augenbrauen hoch und sein schmales Gesicht wirkte erstaunt und traurig zugleich.
«Dann wird das wohl ein längerer Besuch.» Er lächelte, öffnete die Tür und liess mich eintreten.
In der Mansarde herrschte ein einziges Chaos. An einer Wand stand eine Staffelei mit eingespanntem Bild, irgendetwas Abstraktes, wie es Pablo hätte malen können. Überall standen, zu hohen schiefen Türmen aufgestapelt, Bücher auf dem Boden. Ein Schreibtisch war über und über mit Papieren und noch mehr Büchern vollgestellt, die nur wenig Platz für eine Schreibmaschine, eine dieser nigelnagelneuen Remington Portables, freiliess. Sein Bett war ungemacht, der Schrank stand offen, wohl weil er ob der überquellenden Fülle an verschiedenen Kleidungsstücken nicht mehr zu schliessen war. Auf dem Tisch beim Fenster standen Weinflaschen und vor dem Fenster pickte eine Taube an irgendetwas herum, das er dort hingestellt hatte. Verschiedene Masken, Bilder, Landkarten und Notizzettel verdeckten jeden Zentimeter der Wände und sogar der schrägen Decke. Hinter und neben der Staffelei standen Dutzende Bilder, Zeichenblöcke, leere Rahmen, kleine Holzkisten voll von diese neuen Blechtuben mit Farbe. Pinsel steckten in Büchsen und Gläsern oder lagen wild verstreut wie gefallene Soldaten in Lachen von eingetrockneter Farbe unter der Staffelei. Im Zimmer roch es leicht nach der Ölfarbe und nach Terpentin, vermischt mit Zigarrenrauch und Kaffee.
Ich war ebenso schockiert wie amüsiert, denn so etwas hatte ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Staunend stand ich mitten in dem etwa acht mal fünf Meter grossen Zimmer, den Korb mit den mitgebrachten Sachen immer noch vor meine Brust haltend.
«Wie kann ich dir weiterhelfen, Miribal?», fragte Arbogast.
«Oh, ich möchte lernen. Hier, ich habe etwas für Sie mitgebracht.»
Er schaute erst den Korb an und dann mich, schüttelte «tztz» machend den Kopf und nahm mir den Korb ab. «Du weisst, dass das nicht nötig gewesen wäre. Du bist eine Freundin und immer so willkommen wie nur irgendjemand sein könnte. Nun gut, hier sieht es aus, als wären die Goten durchgezogen. Lass mich den Tisch frei machen, dann setzen wir uns.»
Hastig und wie ich fand etwas geniert, machte er den Tisch frei und räumte alles in ein Waschbecken und auf den Boden.

Er stellte meine mitgebrachten Sachen auf den Tisch, holte ein Messer und schnitt von der Wurst und vom Brot ab, öffnete den Wein, den er mit einem anerkennenden Nicken offensichtlich für gut befand, und stellte zwei Gläser auf den Tisch.
«Setz dich, Miribal, Prinzessin der Scheherazade, Schülerin des Wortes und Lehrerin der Freundlichkeiten. Lass uns über Sprache sprechen.»
«Weshalb ist die Nienetwiler Sprache anders als die anderen?»
«Nun, eigentlich einfach, weil unser Volk anders ist als die anderen Menschen. Wir denken anders, Miribal, ich habe dir davon erzählt. Diese Welt ist eine schrecklich komplizierte Welt. Überall lauern Tücken.»
«Den jal ghlotz!», rief ich dazwischen. Er lächelte. «Genau, ghlotz, und zwar überall. Weisst du, für vieles, was ihr kennt, haben wir gar keine Worte. Nicht dass wir sie uns nicht aneignen könnten, aber wir wollen einfach nicht. Sie sind schrecklich, unmenschlich und grauenerregend. Arbeit zum Beispiel, oder Krieg, Gewinn oder Untergebener. All das kennen wir in unserer Kultur nicht, und wir wollen es auch nicht lernen. Unsere Sprache gibt wieder, was wir sind: friedfertige, wissbegierige Menschen, die versuchen, in einer Welt zu überleben, die uns nicht haben will. Unsere Sprache ist ein Abbild von dem, was wir sind: umherziehende, sammelnde Leute. Doch ich habe dir über unsere Sprache ja schon viel erzählt. Du kennst vielleicht nicht unser Vokabular, aber du weisst, wie sie funktioniert. Die meisten Sprachen zwischen Peking und Madrid und zwischen Oslo und Kapstadt haben sich in den letzten tausend Jahren stark verändert. Nimm das Französische. Einst lebten hier Kelten. In Paris waren das die Parisier und die Stadt hiess damals Lutetia. Sie sprachen einen keltischen Dialekt, der heute nicht mehr gesprochen wird.»
«Ähnlich dem Bretonischen?», fragte ich dazwischen.
«Ja, so ähnlich. Aber auch das Bretonische hat sich seither verändert. Als der römische Feldherr Caesar Gallien, so nannte er das Gebiet Frankreichs damals, eroberte, brachten er und seine Armeen die römische Sprache und Kultur hierher. Die Gallier bekämpften die Römer zuerst, doch mit der Zeit nahmen sie die Sprache und viel von der Kultur und den kulturellen Errungenschaften an. Später wurden die Römer von eindringenden germanischen Stämmen vertrieben und die Menschen nahmen auch von ihnen Kultur und Sprache in sich auf. Aus all dem entstand das Altfranzösische – eine Sprache, die selbst du heute wohl nicht einfach so verstehen würdest. Mit der Zeit veränderte sich das Französische immer mehr. Heute haben die Pariser ihren eigenen Dialekt, im Süden versucht man noch immer, den Leuten das Occitane auszutreiben, und die Bretonen, nun ja», sagte er lachend, «die Bretonen sind eben Bretonen. Überall gibt es Dialekte, denn die Einflüsse der Römer und Germanen, der Handel und all das haben in den verschiedenen Regionen auch unterschiedliche Eindrücke hinterlassen. Nicht so aber bei den Nienetwilern. Wir haben in unserer Sprache nicht mehr oder weniger Wörter der Römer übernommen als von den Kelten, den Germanen, den Griechen, den Slaven oder welches Volk du auch immer nehmen willst. Wir haben gesammelt, was uns als brauchbar erschien, und es unserer Ur-Sprache, dem Alaju, hinzugefügt. Und wenn uns etwas nicht mehr gefiel oder ein schöneres, ‹volleres› Wort eingebracht wurde, dann haben wir das übernommen.»
«Haben alle Sprachen denn einen gemeinsamen Ursprung?»
«Manche glauben das, aber es ist nicht wahr. Denn auch der Mensch entstammt nicht einer Familie. Einst gab es viele verschiedene Triebe dieser Pflanze, die heute der Mensch ist. Mit der Zeit hat sich ein Trieb durchgesetzt, aber davor haben sie sich auch vermischt und Wissen und Sprache ausgetauscht. Einige Wissenschaftler sagen, dass alle hier gesprochenen Sprachen vom Indogermanischen kämen, doch sie sind sich selbst nicht einig, denn es gibt Sprachen, etwa das Ungarische oder Finnische, die mit unseren Sprachen fast nichts gemeinsam haben. Das Alaju ist aber uralt und du findest in jeder Sprache dieser Welt Wörter daraus oder ihre in der Zeit veränderte Abwandlung davon. Daher gehen wir davon aus, dass Alaju eine Ursprache der Menschen war und sie ganz an den Anfang zurückgeht.»
«All das ist so … so kompliziert, spannend, und gross. Ich würde gerne mehr wissen!»
«Das kannst du, Miribal, das kannst du. Doch für heute müssen wir unser Gespräch leider beenden, denn ich habe eine Verabredung und muss mich noch etwas ansehnlicher für die Pariser gestalten.»

Als ich zurück im Scheherazade war, drehte sich mir der Kopf. Ich wusste nun, was ich wollte: Ich wollte mein Leben den Sprachen widmen. Doch wie sollte ich das anstellen?

Alaju

1924, was für ein Jahr. Schon im Januar schrieb ich in mein Tagebuch: 4. März 1924: «Dieses Jahr ist erst im dritten Monat und schon ist mehr geschehen, als ich das von ganzen Jahren kenne. Im Januar ist Lenin gestorben und die haben eine ganze Stadt nach ihm benannt. Sein Tod wird die Kommunisten nicht aufhalten. Auf der anderen politischen Seite spielen die Italiener mit ihrem Mussolini verrückt. Die Faschisten gewinnen in ganz Europa stark an Zuwachs, sogar einige Franzosen fangen schon an, dumm daherzureden.
Heute machte der Schreiber des türkischen Botschafters einen Besuch im Café. Er rief aus: «Mme Scheherazade, die Türkei hat das Kalifat abgeschafft, stellen Sie sich das vor! Jetzt sind Sie die einzige Königin von Rang!»

Das Jahr 1924 brachte mir aber vor allem dank der Olympischen Sommerspiele, die in diesem Jahr in Paris stattfanden, die Möglichkeit, meine sprachlichen Kenntnisse weiter zu verbessern. Zu den Spielen reisten aus der ganzen Welt nicht nur Sportlerinnen und Sportler an, sondern auch alles, was die aufblühende Filmindustrie zu bieten hatte. Auch kamen aus der Politik und aus den verschiedensten Forschungsgebieten Leute nach Paris. Niemand wollte sich dieses Ereignis entgehen lassen und alle wollten die Chance nutzen, möglichst viele bekannte, berühmte (und vor allem berüchtigte) Menschen kennenzulernen. Das Scheherazade war wie der Turm zu Babel und es gab wohl kaum eine Sprache, die hier in der Zeit nicht gesprochen wurde.
Ophelia hatte den Stadtrat dazu bewegen können, in der Zeit der Spiele vor dem Scheherazade ein Café betreiben zu dürfen, was dazu führte, dass wir nun den ganzen Tag, und nicht nur mittags oder abends, Betrieb hatten.
Die Grand Madame Scheherazade und ich wuselten den ganzen Tag von einem Tisch zum anderen, sprachen mit diesen und jenen, schäkerten und plauderten und taten, was wir am besten konnten: Wir machten Leute miteinander bekannt.
Es war wenige Tage nach Beginn der Spiele, an einem wunderschönen Maimorgen, als Aciel Arbogast mit zwei Herren ins Café kam. Alle Köpfe wandten sich sofort ihnen zu, denn den einen davon kannte auch ich. Es war Mr. Winston Churchill. Churchills Begleiter wurde mir als Arthur Keith vorgestellt, und Churchill meinte lachend, das sei der einzige Mann im ganzen verflixten Commonwealth, der das politische Recht im Königreich kenne. Und Aciel zwinkerte mir zu und sagte: «Und ausserdem wirst du keinen Fachmann finden, der mehr über Sanskrit weiss als er.»
Ich versuchte meine Aufregung im Zaum zu halten und führte die drei an einen Tisch draussen unter den jungen Kastanienbäumen.
Ophelia kam bereits mit einem Kellner zurück, um die Getränkebestellung entgegenzunehmen. Die drei Männer standen sofort auf und Churchill nahm artig Ophelias Hand und hauchte einen Kuss darauf. «Madame Scheherazade, ihr seid noch schöner als bei meinem letzten Besuch.» «Oh, aber ich bitte Sie, Winston, das war ja noch vor dem Krieg, Sie Charmeur!»
So wurde herumgeplappert und der Kellner, der offensichtlich ganz frisch eingestellt war, schaukelte von einem Bein aufs andere, als müsste er auf die Toilette. Endlich konnte die Bestellung aufgenommen werden und Mr. Churchill meinte zu mir, dass Aciel ihn und «Arthur» extra hierhergebracht habe, um mich kennenzulernen. «Aciel meinte, dass Ihr Euch ganz wunderbar mit den Sprachen, verzeiht meine Ausdrucksweise, mit den Sprachen der Händler, Huren, Diebe und Zigeuner auskennen würdet.»
«Oh, Mr. Churchill, ich habe nur ein gutes Ohr und die Sprachen interessieren mich. Aber unser Freund Aciel übertreibt, denn ich weiss noch nicht einmal ein klitzekleines bisschen von dem, was ich wissen möchte.»
«Nun, Aciel übertreibt zwar gerne, aber wenn er mir jemanden vorstellen möchte, dann hat er auch ganz sicher einen Hintergedanken. Was also, junge Dame, könnte Aciel meinen, das dem ehemaligen Premier- und Kriegsminister Grossbritanniens bei einem Treffen mit euch von Nutzen sein könnte?»
«Das weiss ich nun wirklich nicht, Sir, ganz bestimmt kann ich Ihnen niemals von Nutzen sein!»
«Glaube mir, Winnie» mischte sich Aciel ein, «sie wird dir von Nutzen sein, aber noch nicht jetzt. Ich wollte euch nur bekannt machen, damit wenn die Zeit da ist, du, Mr. Keith und sie zur rechten Zeit zusammenarbeiten könnt.»
«Ach du wieder mit deiner Geheimniskrämerei!», rief Churchill aus und dann lachten sie und Mr. Keith schaute verwirrt zu mir hoch.
«Wenn Sie erlauben, Mr. Keith, und Sie einmal Zeit haben, würde ich gerne etwas erfahren über Sanskrit. Ich habe erst wenig darüber lesen können.»
«Ihr offensichtlich sehr wohlwollender und umtriebiger Freund Mr. Arbogast hat mich bereits gebeten, dass wir uns unterhalten können. Ich erwarte Sie gerne morgen Vormittag im Ritz. Und für Ihren charmanten schottischen Akzent, den Sie für mich an den Tag legten, bedanke ich mich. Üben Sie noch etwas das Ch und das R, dann klappt das beim nächsten Mal ganz wunderbar.»

Am nächsten Tag fand ich mich am Morgen im Ritz ein und wurde bereits von Aciel und Mr. Keith erwartet. Das Ritz war und ist ein riesiges Hotel, das mir wie ein Palast erschien. Doch es war kein Ort, wo man miteinander in Ruhe sprechen konnte. So gingen wir raus und in ein Café gleich an der Ecke Rue Voltaire und Rue Rateau, setzten uns in den Garten und genossen einige Minuten schweigend den Frühlingsmorgen.
Mitten in die Stille sagte Keith: «Das können Sie nicht ernst meinen, es kann keine Sprache ohne Grammatik geben!»
«Und weshalb sollte das nicht gehen? Ein Beispiel. Sie sagen: Ich werde in das Haus da vorne an der Strasse gehen. Ich sage: Ey ta inel hut tawey, also in etwa: ey, ich – ta, also nicht hier sein – inel, sich an einem Ort befinden – hut, also Haus – tawey, das zwischen hier und dort Liegende. Jeder aus meinem Volk versteht das.»
«Das ist doch nur eine Aneinanderreihung von Wörtern!»
«Sie sind nicht umsonst Professor, Professor», witzelte Arbogast ernst.
«Das hilft mir aber bei meinen Sanskrit-Studien auch nicht weiter.»

So stritten die beiden hin und her und ich verstand nur ganz langsam, worum es tatsächlich ging. Scheinbar waren die Wörter aus dem Sanskrit, da gleichen Ursprungs wie unsere heutigen modernen Sprachen, Wörter, die zwar eine Bedeutung hatten, die – zum Beispiel in den Veden – auch so niedergelegt waren, gleichzeitig aber scheinbar auch etwas anderes bedeuten konnten. Also ganz so, wie mir das Arbogast über die Nienetwiler Sprache erklärt hatte. Und der Satz, den er da ausgesprochen hatte, schien auch tatsächlich von da her zu kommen oder umgekehrt.
Ich hing meinen Gedanken nach und merkte gar nicht, dass mich die beiden inzwischen anschauten.
«Was meinst du dazu, Miribal?», fragte mich Aciel.
«Ich? Wozu?»
«Darüber, ob die Sprachen und die Wörter, die wir benutzen, tatsächlich die Möglichkeit geben, uns auszudrücken.»
«Da wir ja jetzt gerade eine präzise Unterhaltung führen, scheint es möglich zu sein. Vielleicht ist in dieser komplexen Welt eine klare Definition der Wörter auch tatsächlich notwendig. Ob sie allerdings wirklich befähigt, sich auszudrücken, bezweifle ich. Alleine wenn ich das Wort Französisch, als Bezeichnung für meine Muttersprache mit dem Wort vergleiche, das Sie Ihrer Sprache geben, also Alaju, dann wird klar, wie langweilig unsere Sprache ist. Während mein Begriff einfach klar macht, dass dies die Sprache der Franzosen ist, sagt Ihr Wort Alaju so viel mehr: Volk der Ewigkeit, wachsende Lebenskraft und ewiges Leben in einem Wort! Nein, die modernen Sprachen können das nur sehr begrenzt und ich verstehe Sie, Mr. Keith, dass Sie die alten Sprachen so faszinieren, denn auch wenn Sie heute nicht viel über Sanskrit gesprochen haben, ist mir, glaube ich, klar geworden, dass fast alle hier gesprochenen Sprachen mit dem Sanskrit verwandt sind.»
Wir sprachen noch bis am Mittag. Ich musste mich beeilen, denn ich musste im Scheherazade helfen.
Aciel sah ich bereits wenige Tage wieder, Mr. Keith jedoch erst zehn Jahre später.

 

Links und Rechts

Ach, die Jahre verflogen nur so. Nach den Olympischen Spielen und einem ganz und gar verrückten Jahr 1924 folgte ein weiteres. Und die Menschheit, die von einem sich immer schneller drehenden Karussell an den Abgrund der Zeitgeschichte gedrängt wurde, tröstete sich mit ausgelassenem Feiern. Von den Grammophonen klang der Swing, man tanzte den Charleston und versuchte zu vergessen, dass das alles so nicht weitergehen konnte. In den Armenvierteln der Städte rebellierten die Arbeiter, unterstützt entweder von den Kommunisten oder den Faschisten, die einen mit der «roten Bibel», die anderen mit nationalistischen Flugblättern.
Wir alle spürten, dass sich da etwas zusammenbraute, das uns in den Abgrund zu reissen drohte, aber der Aufschwung, der technische Fortschritt und die besseren Lebensverhältnisse machten dennoch Hoffnung, dass alles noch einmal gut gehen würde.

Inzwischen war ich auch mit meinen Sprachkenntnissen weitergekommen und wurde von Ophelia (und manchen ihrer Gäste) immer öfter als Dolmetscherin beigezogen.
Ich sprach nun fliessend Englisch und ein gutes Deutsch, hatte kaum noch Schwierigkeiten mit Russisch und schäkerte mit Mr. Veloncourt, dem Latein-Professor der Universität von Paris, in Latein, wobei ich zugeben muss, dass es ein grausiges Latein war.
Aciel war seit dem Herbst 1924 auf Reisen und ich hatte ihn seither nicht mehr gesehen.

Als er im Frühling 1927 wieder auftauchte, war er ganz verändert. Er war mager und die Haare waren grau geworden. Und er sah unendlich müde aus. Er kam eines Abends ohne aufzusehen ins Scheherazade, bei ihm drei Frauen und zwei Männer, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hätte ihn gerne begrüsst, aber sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich das wohl besser lassen würde. Seltsamerweise kränkte mich das sehr. In mein Tagebuch schrieb ich: «29. Mai, 1927: Aciel war heute hier, aber er hat mich nicht beachtet. Nach all der Zeit, die er nun fort war, hat er mich nicht einmal begrüsst. Er sieht um Jahre gealtert aus, ist ärmlich gekleidet und schlecht frisiert. Ich fürchte, mein Freund hat grosse Probleme.»

Nach diesem Besuch war er wieder für einen Monat verschwunden. Doch das Scheherazade und die Cafés in Paris boten mir genügend Abwechslung – zum Beispiel die Gesellschaft von Suzanne (Suzanne Crémieux). Was für eine Frau! Die Dame war so rot, dass Lenins rote Bibel dagegen wie eine verblasste Rose aussah. Sie überschüttete mich mit ewig langen Monologen über die Ungerechtigkeiten, die an den Frauen begangen würden. «Sieh dich doch hier einmal um» – dabei machte sie eine das ganze Scheherazade umfassende Geste – «wie viele Frauen mit Gewicht siehst du denn hier?» Ich deutete auf Mme Shou, die Gattin des chinesischen Botschafters, die draussen im Café sass. Sie war nicht nur gute hundertzwanzig Kilo schwer, es wurde auch gemunkelt, dass sie in der Aussenpolitik aus dem Hintergrund mitmischte. Suzanne lachte ob der Doppeldeutigkeit. «Na, das ist doch das beste Beispiel, sie ist eine Kommunistin, da gilt das Wort einer Frau wenigstens etwas.» «So? Und wo sind die ganzen Frauen in eurer Partei? Oder in Stalins Stab?» In der Art ging es hin und her. Sie hatte natürlich nicht unrecht: Das Scheherazade war wie ein Abbild eines Frankreichs früherer Zeiten. Es gab die Königin und ihre Entourage, zu der ich ja auch gehörte – wir verkörperten den Adel. Dann gab es die «Kaste» der Gelehrten und Politiker, die fast ausschliesslich aus Männern bestand. Dann die «Kaste» der Künstler, in der es ausser einigen Schauspielerinnen, Operettensängerinnen und «Musen» kaum Frauen gab, von denen man hörte.

Die Frauen waren die «Damen», die hierherkamen, um ihre Gesellschaft und manchmal ihren Körper zu verkaufen. Und die Frauen waren die, die die Betten und Zimmer sauber hielten, die Blumen an den Tisch brachten oder im Vorzimmer der Toiletten beim Nachfrisieren halfen. Frauen, mit Ausnahme von Ophelia, hatten in diesem Haus kaum etwas zu sagen, waren komplett untervertreten und durften im besten Fall mit einem freundlichen Klaps auf den Hintern rechnen. Dabei musste ich Ophelia noch in Schutz nehmen, denn die Mädchen standen Schlange, um hier Betten machen zu dürfen. Kaum jemand bot so gute Arbeitsbedingungen. Dennoch reichte das Wenige, das sie verdienten, kaum zum Leben. Im Krieg, da hatten sie uns alle noch gebraucht. Da waren die Männer plötzlich weg und erschossen Deutsche oder wurden selber erschossen. Paris war in den Händen von Frauen, die sich, als der Krieg vorbei war, mit Händen und Füssen dagegen wehrten, dass man ihnen die erlangten Freiheiten wieder nehmen wollte. Es war vergebens. Mit Ausnahme von denen, die wie ich das Glück hatten, in «besseren Kreisen» zu leben – und das taten auch Geneviève und Suzanne – waren die Frauen an ihr Zuhause oder das Fliessband in der Fabrik gebunden. Glücklich noch die, die einen Handwerker zum Mann hatten, der für die Bourgeoisie arbeiten konnte. Aber an den Rändern Paris oder Marseilles schufteten die Frauen für Hungerlöhne oder wurden von ihren Zuhältern oder Männern (oder Vätern) zur Prostitution gezwungen. An den Universitäten war zwar das Studium für die Frauen erlaubt, ganz im Gegensatz zu anderen Ländern, welche die Universitäten erst zu öffnen begannen. Aber welche Frau, wenn sie nicht aus wohlhabendem Hause war, hätte sich das leisten können?
Ich hatte Suzanne also nicht wirklich etwas entgegenzusetzen, und so bestanden unsere Diskussionen oft eher darin, sich hochzuschaukeln und eine riesige Wut im Bauch zu haben.

Bei einem solchen Treffen kam das erste Mal Geneviève Tabouis ins Scheherazade. Sie war eine sehr engagierte Journalistin und kannte wirklich alle, die in der Politik etwas zu sagen hatten. Sie war ebenfalls eine Linke und als sie Suzanne sah, steuerte sie direkt auf uns zu.
Von da an waren wir drei immer wieder zusammen, dicke Freundinnen sozusagen, Geneviève war die Alteste von uns und ich die Jüngste, aber das Alter spielte bei uns keine Rolle.
Einige Monate nach unserem Kennenlernen nahm mich Geneviève beiseite: «Du kennst Arbogast?» «Ja, wieso fragst du?» «Was ist das für einer?» «Wie, warum fragst du mich das? Er ist ein enger Freund von mir.» «Ach, nur so, ich wollte nur fragen.» Und dann wechselte sie das Thema.
Das fand ich seltsam. Ich hatte noch nie über Aciel nachgedacht, fiel mir da ein. Er war einfach so da oder nicht da. Er war ein Freund und Freund unserer Freunde. Er war einfach d’Aciel Arbogast. Also ging ich zu Ophelia und fragte nach ihm. «Oh, mon cher, Aciel ist Aciel. Er ist immer auf der Suche, immer am Wirken und Weben von Netzen. Er ist ein Forscher, Abenteurer und neuerdings auch Diplomat, der, so scheint mir manchmal, mehr Leute kennt als Gott.»
Da ich auch aus dieser Antwort nicht schlau wurde, sprach ich nun Geneviève deswegen an. «Weshalb hast du mich nach Aciel gefragt?» «Er ist suspekt», lautete die trockene Antwort. «Was?» «Suspekt. Keiner weiss, wer oder was er eigentlich ist. Fragst du einen Künstler, dann sagt er dir, ‹ah Arbogast, ja, der ist Künstler, kein besonders guter zwar, aber Künstler›, fragst du einen Politiker, dann sagt der dir, ‹ich weiss nicht, von welcher Partei der ist, aber er kennt wirklich jeden rechtschaffenen Politiker auf dem Planeten›, und fragst du einen Handwerker, irgendeinen in Paris, nun, das ist vielleicht übertrieben, trifft es aber fast, dann sagt der ‹ja, den Arbogast kenn ich, der hat mir einen Hobel besorgt›. Verstehst du, was ich meine? Jeder kennt ihn, und das beileibe nicht nur in Paris, doch keiner kennt ihn aus der Gesellschaft der anderen. Es ist einzig mein Glück, dass ich als Journalistin mit den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, wenn du so willst, zu tun habe, sonst würde ich, wie die anderen meiner Kollegen, denken, er sei Journalist!» Sie hatte sich derart echauffiert, dass ihr zierliches Gesicht ganz rot angelaufen war und die Strähnen ihres Bubikopfs an ihrer Stirn klebten. Sie wischte sich die Haare unwirsch aus dem Gesicht. «Verstehst du nun, weshalb ich frage?»
Ich verstand nicht. «Das ist doch nur seine Neugierde und sein Forscherdrang. Er ist offen gegenüber allen Leuten, egal ob aus Politik, Kunst oder Wissenschaft. Er fragt und bekommt Antworten, er hat ein Wissen, das unbeschreiblich ist und das er offen mit allen teilt, die es gebrauchen können. Und weil er überall nach seinem Nienetwil forscht, kommt er auch in allen Gegenden und Ländern mit Menschen zusammen, die er wiederum mit anderen bekannt macht, wenn er denkt, dass es ihnen von Nutzen ist.»
«Das ist möglich, Miri, aber ich habe ihn zusammen mit Faschisten gesehen!»
Es war, als hätte sie mir einen Ziegelstein an die Brust geworfen. «Faschisten? Niemals! Er verachtet sie zutiefst!», rief ich aus.
«Ich habe ihn mit Georg Valois und einem seltsamen Typen aus der Okkultistenszene sprechen sehen.» «Aber das besagt doch gar nichts. Hast du ihn etwa faschistische Reden schwingen hören?» «Nein, das nicht, aber es ist doch merkwürdig, oder nicht?»
Ja, das war es, und ich musste noch einen ganzen Monat warten, bis ich darauf eine Antwort bekam.
Als ich Aciel das nächste Mal sah, sah er noch abgerissener aus als bei seinem letzten Besuch. Aber er lachte wenigstens wieder, und als er mich erblickte, winkte er mich zu sich und küsste mich auf die Wangen. «Miribal, meine Prinzessin. Ich habe dich vermisst!»
Einige Stunden später, wir hatten das Strassencafé bereits geschlossen und die wenigen noch verbliebenen Gäste waren in den grossen Salon gegangen, nahm er mich bei der Hand: «Setzen wir uns, Miribal.» Wir setzten uns abseits der anderen Gäste an einen kleinen Tisch. «Du schaust mich seltsam an, Miribal, was ist los?» «Ich habe seltsame Dinge über dich gehört, dass du mit Faschisten verkehrst und dich die Linken als suspekt bezeichnen. Und ich mache mir Sorgen um dich, du siehst müde und ausgezehrt aus.»
«Oh Miribal, ich bin müde und ausgezehrt, ich bin in der halben Welt herumgereist, um die Nienetwiler vor dem zu warnen, das da auf uns zukommt.»
«Und was kommt auf uns zu?» «Ein Krieg, Miribal. Ein Krieg kommt auf uns zu. Überall steigt der Faschismus empor wie die Gase aus einem Sumpf, und wie diese vergiftet er das Klima überall. Doch niemand will es wahrhaben. Noch nicht einmal Winni. Wir Nienetwiler leben über die halbe Welt verstreut, erst noch mussten viele vor Stalin fliehen, jetzt vor den Faschisten in Italien. Viele sind in die Schweiz gezogen und bauen sich dort, in ihrer alten Heimat, eine neue Zukunft auf. Mit den Faschisten habe ich gesprochen, weil ich mehr über ihre Pläne herausfinden wollte, mehr nicht! Und weil ich den einen oder anderen davon überzeugen wollte, dass der Faschismus ein ebenso gefährlicher Holzweg ist wie der Kommunismus. Und ich benötige von ihnen Sicherheiten und Hilfe, damit ich das Erbe der Nienetwiler in die Schweiz retten kann, bevor es zu spät ist. Ich bin für diese Arbeit nicht gemacht, Miribal. Ich möchte draussen im Garten sitzen und lesen, einen Tisch schreinern oder ein Bild malen. Ich möchte Musik machen oder durch die Landschaft streifen. Stattdessen muss ich mich mit Menschen abgeben, die nicht verstehen, dass sie einen Irrtum begehen.»
In jener Nacht sassen wir noch lange zusammen und Aciel erzählte mir von all den Treffen mit Wissenschaftlern, Politikern und anderen Leuten, um so viel an archäologischen Fundgütern, an Schriften und anderem in Sicherheit bringen zu können, wie es ging.
Am nächsten Tag schrieb ich in mein Tagebuch: «11. Juli 1927: Aciel war wieder hier und wir haben uns lange unterhalten. Er versucht, das Erbe der Nienetwiler zu retten. Ach, könnte ich ihm helfen. Die ganze Bürde, die er trägt. Und wie einst sein Vater, der in die Welt gehen musste, um das Böse zu erkunden, muss er sich nun opfern, um Nienetwil zu retten. Es gibt ausser Ophelia keinen Menschen, den ich so liebe wie ihn.»

Weiter geht es in der nächsten Ausgabe der CRN.


  1. Inhaltsverzeichnis CRN 1-2020-1
  2. Einleitung der Herausgeber
  3. Vorwort
  4. Das Nienetwil-Projekt
  5. Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?
  6. Biografie von d’Aciel Arbogast I.
  7. Die Stellung des Handwerks und Werkzeugs in der Nienetwiler Kultur
  8. Biografie Amot Nussquammer sen.
  9. Einführung in die Nienetwiler Kultur von Amot Nussquammer sen.
  10. Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
  11. Ursprung der Nienetwiler Kultur
  12. Biografie Nomis Arbogast
  13. Fundbeschreibung und eine kleine Zeitreise in die Nienetwiler Kulturgeschichte
  14. The Alaju Settlement – Auszug aus der Autobiografie
  15. Ausblick CRN Nr. 2
  16. Impressum-Autoren CRN 1-2020-1