Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?

Davi J. Krieger

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, warum die «visionäre Vergangenheitsforschung» wichtig ist und welche Rolle Utopien in der heutigen Gesellschaft spielen. Die Kernaussage lautet: Herkunft ist Zukunft. Wenn also heute eine Vision einer besseren Welt möglich ist, dann soll man sie in unser aller gemeinsamen Herkunft suchen. Dies ist Nienetwil.

 

Was ist «visionäre Vergangenheits-Forschung»?

Die Vergangenheitsforschung kennen wir alle, vor allem unter dem Begriff «Geschichte». Mit Geschichte assoziieren wir vielleicht ein mehr oder weniger langweiliges – und alles andere als «visionäres» – Schulfach, das sich mit Nationen, Herrschern, Kriegen, Verträgen, Wirtschaftsentwicklungen etc. beschäftigt. Vielleicht kommen uns aber auch die spannenden und üblicherweise sehr dicken historischen Romane in den Sinn, welche die Erlebnisse und Schicksale von gewöhnlichen Menschen in vergangenen Zeiten erzählen. Was immer wir unter Geschichte und der Erforschung der Vergangenheit verstehen: Wir haben es mit etwas zu tun, das sehr alt ist. Die alten Griechen im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung haben die Geschichtsschreibung erfunden. Sie haben die schon seit Jahrtausenden praktizierten mythologischen und dichterischen Erzählungen durch eine neue Art der Betrachtung von Vergangenheit ersetzt.

 

Tatsachen und Visionen

Die früheren Dichter und Mythenerzählerinnen waren nicht an «Forschung» über vergangene Ereignisse interessiert, sondern an Inspiration durch Musen oder die Offenbarungen der Götter oder Propheten. Auch wenn die Dichtung – zum Beispiel von Homer in der Ilias und der Odyssee – Bezug auf angeblich historische Tatsachen genommen hatte, waren diese Tatsachen aber nebensächlich zur Darstellung der Heldentaten von Achilles und die mit ihm und anderen Helden schicksalhaft verwickelten Göttern. Das Gleiche gilt für Odysseus in der Odyssee: Es ging darum, die exemplarischen Eigenschaften des Heros anhand der weltlichen, aber auch übernatürlichen Ereignisse darzustellen. Die mythologische Erzählung sollte das zum Vorschein bringen, was den Menschen zu dem macht, was er wahrhaftig ist. Die Heldenbeschreibungen der Dichtung waren nicht Bilder von etwas Vergangenem, sondern sie waren «Vorbilder» für das, was der wahre Mensch sein sollte. Mythologie und Dichtung zielten nicht darauf ab, über die tatsächlichen Ereignisse zu berichten. Denn an sich sind Tatsachen belanglos. Sie brauchen eine «Vision», um eine Bedeutung, einen Sinn zu bekommen. Das Gleiche kann man auch über das Alte Testament sagen, zum Beispiel das «Buch der Könige» und die Chronik, welche, obwohl sie von angeblich historischen Ereignissen handeln, doch dem Ziel dienten, die grossen Taten Gottes zu verkünden. Für alle mythologische Erzählung gilt, dass sie eher von einer Vision geleitet war als von einer Suche nach dem, was «wirklich» passierte. Die Mythologie und Dichtung ist also eine «visionäre» Erzählung von Vergangenem, ohne dabei von einem Forschungsinteresse geleitet zu sein.

Dies änderte sich mit Herodot im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, den Cicero «Vater der Geschichtsschreibung» (pater historiae) nannte. Herodot verfasste die «Historien», in welchen er vom Aufstieg des Perserreichs berichtete, und dabei brachte er vieles über verschiedene Völkerschaften und deren Leben, Gebräuche und Religionen in seine Erzählung ein. Gegenstand seiner «Erforschungen» waren nicht nur die Griechen und ihren Taten, sondern die damals bekannte Welt als Ganzes. Dieses Programm, das die Geschichtsschreibung des Westens bis heute beeinflusst, wirft aber das grundlegende Problem aller Vergangenheitsforschung auf: Was soll man aus der unendlichen Vielfalt der Ereignisse, Personen, Taten, Gebräuche, Religionen, Bauwerke, Artefakte etc. auswählen, um darüber zu berichten? Dies kann man das «Problem der Selektion» nennen. Denn über alles kann man nicht erzählen. Historikerinnen und Historiker müssen eine Auswahl treffen. Herodot selber sagt, warum er nur bestimmte Ereignisse für erzählenswert erachtete. Er schreibt seine Historien, «damit die Taten der Menschen nicht durch die Zeitläufe vergehen, damit die grossen und bewundernswerten Taten nicht ruhmlos vorübergehen» (Herodot: Proömium der Historien).

Also ging es Herodot nicht nur um die Tatsachen, sondern um diejenigen Tatsachen, die «gross und bewundernswert» waren und demnach «Ruhm» verdienen. Was «gross» und «bewundernswert» ist und was «Ruhm» verdient, ist aber nicht in den Tatsachen selbst ersichtlich, sondern es ist eine Wertschätzung, eine Interpretation, eine «Vision», welche von den Historikerinnen und Historikern und auch ihrem Publikum an die Tatsachen herantragen wird. Eine «Vision» leitet die Erforschung des Vergangenen und löst dabei das Selektionsproblem. So verschieden ist dieser Ansatz nicht von Homers Ansatz, der nur Heldentaten auswählte, um das, was für ihn wichtig und bedeutungsvoll war, darzustellen. Die Geschichtsschreibung also scheint in einem Dilemma gefangen zu sein: Entweder erforscht man die Tatsachen und endet dabei in einer unübersichtlichen Fülle von vielleicht belanglosen Ereignissen, oder man lässt die Erforschung von Vergangenem durch eine Vision leiten, die einem sagt, was wichtig und bedeutungsvoll ist und was nicht. Der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus fasst dieses Problem zusammen, wenn er schreibt: «Sie fühlen sich gekränkt, wenn man übergeht, was der Kaiser bei Tisch geredet habe, oder auslässt, aus welchem Grund irgendwelche einfachen Soldaten unter den Fahnen bestraft worden sind, oder weil man über die Ereignisse in kleinen Kastellen nicht habe schweigen dürfen … Derlei und ähnliche Vorwürfe gibt es noch mehr. Doch sie widersprechen den Regeln der Geschichtsschreibung, die nur die Höhepunkte der Ereignisse beschreibt, nicht aber den Kleinigkeiten niederer Sphären nachspürt. Denn wenn wirklich jemand diese erforschen wollte, so könnte er ebenso gut auch die Hoffnung hegen, dass sich auch jene unteilbaren Teilchen, die im leeren Raum schweben und die wir Griechen ‹Atome› nennen, zählen liessen» (Ammianus 26,1,1). Genau weil der Historiker nicht alle Atome und alle möglichen Verbindungen von Atomen im Universum zählen und erzählen kann, muss er, wie Ammianus sagt, nur «die Höhepunkte» der Geschichte erzählen. Was aber die «Höhepunkte» sind, das kann nur eine Vision von ihrem Sinn und ihrer Bedeutung ausmachen. Als Tatsachen an sich sind alle Tatsachen gleich.

Der Schluss liegt nahe, dass alle Vergangenheitsforschung «visionär» ist. Auch wenn man die Erforschung der Tatsachen, im Gegensatz zu Mythologie, betont und nicht die Vision, ist die Vision mitbestimmend immer dabei. Im Lauf der Zeit ist man auf die Idee gekommen, nicht nur die Tatsachen zu erforschen, sondern auch die Visionen, welche die Erforschung der Tatsachen geleitet haben. Je nach Vision werden andere Tatsachen erforscht und gefunden. Nicht nur ist alle Vergangenheitsforschung notwendigerweise visionär, sondern die visionäre Vergangenheitsforschung hat selbst eine Vergangenheit.

 

Die Geschichte der Visionen

Während die römische Geschichtsschreibung entweder die republikanische Zeit oder die jeweiligen Kaiser glorifizierte, fanden die Historiker des christlichen Mittelalters überall in den Ereignissen der Geschichte Gottes Plan am Werk. Die Vergangenheit war nur insofern interessant, als daraus die Wahrheit der christlichen Lehre und der Glaube an die Erlösung bestätigt werden konnten. Dies änderte sich in der Neuzeit, wo der Fokus auf den Menschen fiel. Der Humanismus stellte den Menschen ins Zentrum des Weltgeschehens: Nicht Gott wird bezeugt in den historischen Tatsachen, sondern der Mensch.

Die säkularisierte, «aufgeklärte Moderne» interessierte sich für Vergangenes nur insofern, als Freiheit und die Selbstbestimmung des Menschen darin zum Ausdruck kamen. Die Vernunft tritt an Gottes Stelle als Ursprung und Ziel der Geschichte. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ermahnte den Menschen, sein eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen und mittels Vernunft die Welt aus der Dunkelheit religiöser Vorurteile ins Licht zu führen. Die abstrakte und mathematische Vernunft der Aufklärung konnte aber die Romantiker des 19. Jahrhunderts mit ihrem Gefühl für die Vielfalt und Eigenart der historischen Zivilisationen und Kulturen nicht befriedigen. Also wurde die Vernunft in den Händen Hegels zu dem Weltgeist, der durch die historische Dialektik sich selbst in die Vollendung des Selbstwissens des Geistes über den Weg der Widersprüche der Geschichte führt. Die Geschichte bringt den Weltgeist zum Bewusstsein seines Selbst und in diesem absoluten Wissen endet die Geschichte.

Marx und Engels sahen in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts keine befriedigende Lösung für die Menschheitsgeschichte und stellten Hegel auf die Füsse. Sie fanden in den historischen Tatsachen Belege für die Gesetze des dialektischen Materialismus: Über den Klassenkampf und die sich daraus ergebende und unaufhaltsame Revolution werde die kommunistische Gesellschaft unweigerlich entstehen, und erst dann könne man mit gutem Gewissen das Ende der Geschichte erklären. Gegen solche weltbestimmenden und absolutistischen Visionen setzten das übrige Europa auf den Fortschritt durch Wissenschaft und freie Wirtschaft. Wo immer man in die Geschichte schaut, sieht man das Werk des wissenschaftlichen Fortschritts, der Demokratie und des Kapitalismus. Die Herrschaft Europas über die Welt im 19. Jahrhundert, auch unter dem Begriff des Kolonialismus bekannt, beweise und legitimere die Überlegenheit der europäischen Kultur, so die Auffassung. Die Visionen von Aufklärung, Fortschritt, Wissenschaft und freier Wirtschaft beeinflussen das europäische Selbstverständnis bis heute und erschliessen eine Vergangenheit, welche die «freie Welt» des Westens als Gipfel der Menschheitsgeschichte betrachtet. Leider erlebten viele dieser Visionen ihren definitiven Niedergang in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und der darauf folgenden Globalisierung. Der Glaube an die Überlegenheit der europäischen Moderne ist endgültig vorbei. Die leitenden Visionen westlicher Kultur haben sich in einer beispiellosen Selbstzerstörung aufgelöst.

An die Stelle moderner Visionen der Überlegenheit des Westens trat die postmoderne Kritik. Postmoderne «Dekonstruktion» versuchte, allen Visionen zu entkommen, indem sie die Vision der Visionslosigkeit bzw. der Sinnlosigkeit aller Versuche, einen Sinn in den Tatsachen zu finden, vertritt. Die Postmoderne «dekonstruierte» alle Sinnansprüche und liess somit die Tatsachen für sich allein, ohne jegliche Vision, d. h. ohne Sinn. Nachdem die Sinnlosigkeit der Tatsachen so radikal und rücksichtslos zur Schau gestellt wurde, lag die Vermutung nahe, man könne daraus machen, was man will. Die Tatsachen «verpflichten» uns zu nichts. Sie haben also unseren Visionen zu dienen und können uns nicht zwingen, etwas zu denken, das wir nicht denken wollen, etwas in der Vergangenheit zu sehen, das wir nicht sehen wollen.

Das darauf folgende Post-Truth-Zeitalter, in dem wir jetzt leben, reagiert auf die Postmoderne, indem es die Tatsachen für irrelevant erklärt und nur die Visionen als wichtig erachtet. Die Politik darf jede Unwahrheit erzählen, solange die Menschen daran glauben und dafür stimmen.

In dieser seltsamen Situation, wo die Tatsachen wie in der Zeit von Homer und den Propheten nur den Visionen zu dienen haben, stellt sich die Frage der Utopie, d. h. die Frage nach der richtigen Vision.

 

Post Truth und Utopie

Im heutigen Post-Truth-Zeitalter ist eine Tatsache nicht mehr das, was sie einmal war. Früher waren Tatsachen die objektive Wahrheit, ohne jegliche Mischung mit subjektiven Meinungen. Man war verpflichtet, an die Tatsachen zu glauben. Heute, ob zu Recht oder Unrecht, ob gut oder schlecht, sind Tatsachen untrennbar verwoben mit sozialen, politischen, religiösen und sonstigen Subjektivitäten. Greta Thunberg soll einmal auf die Frage, wie sie die USA im Vergleich zu Europa erlebe, gesagt haben, die Klimaveränderung in den USA sei etwas, woran man glaube oder nicht glaube. In Europa sei sie eine Tatsache. Aber auch in Europa ist die Klimaveränderung eine Tatsache, deren Bedeutung unklar ist. Wozu genau verpflichtet uns diese Tatsache? Das ist eine Frage der Verhandlung, und Verhandlungen werden immer von Interessen geleitet, und Interessen sind letztlich von Visionen geleitet. Wenn die Tatsachen für sich selbst sprechen würden, müsste Greta Thunberg nicht auf die Strasse gehen. Die Tatsachen brauchen offensichtlich jemanden, der für sie spricht. Ob in Natur oder Kultur, die Wahrheit ist nicht mehr einfach da, objektiv gegeben und ausgestattet mit dem Anspruch, von allen akzeptiert zu werden. Die Wahrheit ist Verhandlungssache geworden. Und das, was ausgehandelt werden soll, ist nicht nur die Welt, wie sie ist, sondern die Welt, wie sie sein sollte.

Nach der postmodernen Dekonstruktion aller Visionen sind die Visionen im heutigen Post-Truth-Zeitalter zurück, und zwar mit dem offenen und unverschämten Anspruch, die Tatsachen zu bestimmen. Die Auswüchse dieses Post-Truth-Zeitgeists zeigen sich zur Genüge in der heutigen Politik und den von Fake News und Click Bate dominierten Medien. Die Medien haben sich auf eine «Ökonomie der Aufmerksamkeit» eingestellt, wonach News das sind, was Aufmerksamkeit oder Klicks von Medienkonsumierenden auf sich zieht. Die Wahrheit spielt in den Medien wie auch in der Politik heute – dies war zwar bis zu einem gewissen Grad immer der Fall – überhaupt keine Rolle mehr. An die Stelle der Wahrheit treten heute Filterblasen, Echo Chambers, Populismus und eine verwirrende Ansammlung der verschiedensten Verschwörungstheorien. Wenn die Medien, wie Niklas Luhmann sagte, die «Selbstbeobachtung der Gesellschaft» sind, dann kann man nur mit Schrecken in diesen Spiegle schauen und feststellen, dass wir uns heute wie das Porträt von Dorian Grey sehen. Wir sehen uns in der brutalen Realität der Weltpolitik vollkommen widergespiegelt. Aber wir können immer noch darüber entscheiden, wie wir uns im Spiegel der Vergangenheit sehen. Wenn die Visionen darüber entscheiden, was die Tatsachen sind, dann hängt alles davon ab, die richtige Vision zu haben. Dies bringt uns zum Begriff der «Utopie».

Utopien haben immer die Vision vor die Tatsachen gestellt, und zwar weil die Utopisten überzeugt waren, dass die Tatsachen anders werden könnten und anders werden sollten. Utopien, im Gegensatz zu Verschwörungstheorien und vielen Ideologien, haben sich verpflichtet, die Regeln, die eine gewisse «Glaubwürdigkeit» verleihen, zu respektieren. Wie immer eine Utopie die Welt, wie sie sein sollte, schildert, soll diese Vision, obwohl «frei» erfunden, doch «plausibel» sein. Die «Tatsachen», worauf die utopische Vision beruht – so der Anspruch –, hätten wirklich geschehen können. Sie sind glaubwürdig.

Alle Personen, die Sie, liebe Leserinnen und Leser dieser ersten Inaugurationsnummer der Neuausgabe der Cahiers de recherches de Nienetwil kennenlernen werden, sind Menschen ihrer Zeit. D’Aciel Arbogast und sein Sohn Nomis Arbogast, Amot Nussquammer und sein Sohn Amot jun., Miribal Ciséan und andere sind Menschen, die sich in ihren Lebenssituationen wirklich so verhalten, so denken und fühlen und so hätten handeln können, wie sie hier beschrieben sind. Auch alle archäologischen Befunde über Nienetwil, die im Kantonsmuseum Luzern aufbewahrt sind, hätten wirklich gefunden werden können und werden vielleicht eines Tages tatsächlich gefunden.

Alles, was hier über Nienetwil erzählt wird, ist in der «Wirklichkeit» genügend verankert, an die Wirklichkeit angelehnt, mit der Wirklichkeit vermischt, dass es nicht nur glaubwürdig ist, sondern auch glaubenswert. Denn die utopische Vision muss nicht nur plausibel, sondern auch würdig des Glaubens sein. Die Utopie muss eine Welt darstellen, an die es sich lohnt zu glauben und die verdient, geglaubt zu werden. Und zwar dermassen, dass man bereit wäre, sich in irgendeiner Art und Weise einzusetzen, um diese Welt zu realisieren. Zur Verteidigung der utopischen Fiktion muss man sagen, dass nichts wirklich völlig «frei» erfunden wird, sondern auf einer Geschichte beruht, auf Traditionen und gegenwärtigen Problemlagen. Diese machen die Bühne bereit für die utopische Darstellung und bestimmen ihre Relevanz und Bedeutung für die Gesellschaft. Obwohl Utopien «nirgendwo» sind, kommen sie nicht von nirgendwo, sondern sind begründet und motiviert von einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen Moment. Weil die Gesellschaft und die Welt so sind, wie sie heute sind, müssen/sollten wir uns dieser Utopie verpflichten und nicht irgendwelchen anderen. Die Utopie ist die Antwort auf die Frage, die eine Gesellschaft und ein historisches Moment sich stellen: Wo sollen wir hin? Was soll aus uns werden? Welche Zukunft wollen wir?

 

Warum Nienetwil?

Es ist klar, dass es, seitdem Satelliten die Welt umkreisen und alle Orte auf der Erde sichtbar machen, keine unentdeckten Inseln oder vergessene Bergtäler mehr gibt, wo man Utopien lokalisieren könnte. Eine Utopie heute kann nicht «anderswo» sein, sondern muss nirgendwo besonders sein, das heisst, der einzig noch verbleibende utopische Raum ist überall. Zu sagen, dass Nienetwil eine Utopie darstellt, ist zu sagen, dass Nienetwil überall ist, mit uns und unter uns und bei uns, und zwar seit dem Anfang der Geschichte. Nur haben andere Visionen die Tatsachen von Nienetwil überlagert oder ausgeblendet und nicht für wichtig gehalten. Erst die Vision von dem, was Nienetwil bedeutet, lässt die Tatsachen erscheinen. Zudem: Wenn etwas überall ist, müssen wir die Frage beantworten, wie es überall hingekommen ist. Die Antwort, die wir auf diese Frage geben, ist, dass Nienetwil überall ist, weil sie die erste und ursprüngliche Kultur und Lebensweise des Menschen darstellt. Deswegen ist die Erforschung von Nienetwil nicht nur Geschichtsschreibung, sondern «Archäologie», d. h. die «Lehre von den Altertümern». Unsere wissenschaftlichen Protagonisten, Arbogast und Nussquammer, aber auch die anderen, die in der Geschichte von Nienetwil eine Rolle spielen, sind vor allem Archäologen und Philosophen, d. h. Menschen, die für Visionen zuständig sind. Wir, die Nienetwil erforschen – zusammen mit Arbogast und Nussquammer, Miribal und den anderen –, sind uns unserer Verantwortung Ihnen gegenüber, liebe Leserin und liber Leser, bewusst, keine Hirngespinste und Unsinn zu erzählen. Humor und Unterhaltung sind selbstverständlich erlaubt, aber im Grunde meinen wir es ernst. Und wir hegen die Hoffnung, dass das, was wir in dieser Neuausgabe der Cahiers de recherches de Nienetwil publizieren, auch ernst genommen wird. Aus einem solchen Engagement kommt natürlich auch der Wunsch, in den Dialog mit dem Publikum zu treten und ein Gespräch in Gang zu setzen, das weitere Kreise einbezieht. Aus diesem Grund haben wir entschieden, nicht nur die Cahiers de recherches de Nienetwil neu herauszugeben, sondern auch, wie heute üblich, ein Wiki zu erstellen, in dem alle sich über die neuesten Entwicklungen der Nienetwiler Forschung informieren und selbst interaktiv mitarbeiten können. In einer gewissen Art und Weise sind alle Utopien «open source».


  1. Inhaltsverzeichnis CRN 1-2020-1
  2. Einleitung der Herausgeber
  3. Vorwort
  4. Das Nienetwil-Projekt
  5. Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?
  6. Biografie von d’Aciel Arbogast I.
  7. Die Stellung des Handwerks und Werkzeugs in der Nienetwiler Kultur
  8. Biografie Amot Nussquammer sen.
  9. Einführung in die Nienetwiler Kultur von Amot Nussquammer sen.
  10. Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
  11. Ursprung der Nienetwiler Kultur
  12. Biografie Nomis Arbogast
  13. Fundbeschreibung und eine kleine Zeitreise in die Nienetwiler Kulturgeschichte
  14. The Alaju Settlement – Auszug aus der Autobiografie
  15. Ausblick CRN Nr. 2
  16. Impressum-Autoren CRN 1-2020-1